Francesco Di Palma / Walther L. Bernecker / Jean-Numa Ducange u.a. (Hgg.): Der Eurokommunismus. Schlüsseltexte und neue Quellen, Berlin: Metropol 2024, 310 S., ISBN 978-3-86331-743-0, EUR 24,00
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Jean-Numa Ducange: La République ensanglantée. Berlin, Vienne : aux sources du nazisme, Paris: Armand Colin 2022
Was immer man vom Kapitalismus, also der marktwirtschaftlichen Organisation von Produktion und Verteilung, halten mag, die Überwindung dieser Wirtschaftsweise zählt zu den legitimen Zielen demokratischer Politik. Voraussetzung für die demokratische Legitimität dieses Ziels bleibt, dass der Weg reversibel und dem Votum der Bürger unterworfen bleibt. Was passiert, wenn man die Spielregeln demokratischer Legitimität nicht einhält, konnte man ab 1917 in der späteren UdSSR beobachten: gewaltsame Machtergreifung einer sich revolutionär legitimierenden marxistischen Partei, Terrorherrschaft und Bürgerkrieg, Zerstörung ökonomischer und landwirtschaftlicher Strukturen, massenhafte Verarmung und millionenfacher Hungertod, ein Kasernenhof-Sozialismus mit primär militärökonomischer Ausrichtung. In den entwickelten kapitalistischen Industriegesellschaften entstanden im Laufe des 20. Jahrhunderts dagegen Mischformen von kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsweise, mit mal wachsendem, mal schrumpfendem Staatsanteil. Allzu große Irrwege stießen auf das Regulativ der Wahlurnen.
Neben der revolutionären Legitimität stützte die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ihren weit über die UdSSR hinausreichenden Machtanspruch auch auf die Idee, durch das "wissenschaftliche" Instrumentarium des Marxismus-Leninismus die Zukunft der Menschheit zu kennen und als dessen führende Kraft den "revolutionären Weltprozess" zur sozialistischen Weltgesellschaft steuern zu können. Die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" blieb unumstößliches Ziel auf das die KPdSU auch die kommunistischen Parteien in den westlichen Industriegesellschaften verpflichtete. In der Auseinandersetzung zwischen dem Politbüro des KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breschnew und den sogenannten eurokommunistischen Parteien, also dem italienischen Partito Comunista Italiano (PCI), dem französischen Parti communiste français (PCF) und dem Partido Comunista de España (PCE), die der vorliegende Band dokumentiert, ging es auch darum, ob die sowjetische Orthodoxie von gewaltsamer Revolution und Diktatur in den 1970er Jahren für kommunistische Parteien in Westeuropa noch verbindlich sein konnte. 1976 verneinte dies Santiago Carrillo, der PCE-Generalsekretär, auf der Ost-Berliner Konferenz der kommunistischen Parteien Europas, indem er zu "den 'formalen' Freiheiten" der bürgerlichen Demokratie erklärte: "Wir, die wir 40 Jahre unter der faschistischen Diktatur litten, haben den wahren Wert dieser Freiheiten schätzen gelernt, die es verdient, mit größtem Nachdruck verteidigt zu werden. [...] Und in keinem Fall, unter keinem gesellschaftlichen Regime, noch viel weniger im Sozialismus, akzeptieren wir den Gedanken ihres Abschaffens". (96)
Mit Hilfe von Quellen bzw. Quellenauszügen aus den Archiven der drei westeuropäischen kommunistischen Parteien sowie der SED und der KPdSU dokumentiert der Band diese auch für die Geschichte des Kalten Kriegs bedeutsame Kontroverse. Die Dokumente sind nach ihrer Provenienz in chronologisch geordnete Blöcke aufgeteilt, denen von den jeweiligen Bearbeitern kundige Einleitungsessays vorangestellt sind. Francesco Di Palma, der auch die Dokumente zum PCI betreut, hat dazu eine Gesamteinleitung verfasst, die einen Überblick zum Forschungsstand gibt. Einige editorische Entscheidungen des Teams sind zu kritisieren: Anstatt den Band mit einem Personenverzeichnis auszustatten, werden die genannten Personen in jedem Block neuerlich in einer Fußnote mit ihrer Kurzbiografie vorgestellt. Leider fehlt dem Band auch ein vollständiges Literaturverzeichnis, so dass die Suche nach der Erstnennung der im weiteren Anmerkungsapparat nur noch in Kurztiteln genannten Literatur beschwerlich geraten kann.
Mit dem Einmarsch des Warschauer Pakts in die čSSR hatte die KPdSU 1968 bewiesen, wie wenig ihr an eigenständiger Politik anderer kommunistischen Parteien gelegen war. Die Spannungen, die dieser Gewaltstreich im Verhältnis zu den drei westeuropäischen Parteien hervorrief, konnten zunächst gekittet werden. Die antagonistische Zuspitzung, die das Verhältnis der KPdSU zum PCI in den 1970er Jahren nahm, entzündete sich ironischerweise an den Wahlerfolgen der italienischen Partei und der Krise des politischen Systems in Italien. Wie Gesprächsprotokolle mit Vertretern der KPdSU aus dem SED-Archiv zeigen, forderte die KPdSU von ihren italienischen Genossen ein entschiedeneres Voranschreiten auf dem Weg zu einer Revolution. Boris Ponomarjow, Leiter der Internationalen Abteilung beim Zentralkomitee der KPdSU, beklagte im Februar 1973 gegenüber der SED die "einseitige Orientierung auf den friedlichen Weg", die die Politik des PCI kennzeichnete. Dazu stellte er fest: "In Italien ist viel Zündstoff angehäuft, der in jedem Moment zur Explosion führen kann. Die Partei muss das Volk darauf vorbereiten." Auf die Frage der Italiener, "ob die IKP Waffen kaufen solle", habe die KPdSU geantwortet, "dass im Kopf der Arbeiterklasse alle Formen des Kampfes klar sein müssen und die Partei darauf vorbereitet sein muss". (177)
Anders als Maximilian Graf in seiner Vorbemerkung zu den SED-Quellen nahelegt, war das Plädoyer des "Komintern-geeichten Ponomarjow" für "den bewaffneten Kampf als Option" (172) kein Anachronismus, sondern entsprach der sowjetischen Revolutionstheorie der Zeit. In den einschlägigen Werken wurde eine einseitige Orientierung auf "den friedlichen Entwicklungsweg der Revolution" als rechter Opportunismus verworfen, der nicht zugeben wolle, "dass zur Eroberung der Macht unter bestimmten Umständen der bewaffnete Kampf und die illegale Arbeit notwendig und unvermeidlich sind". [1] In einer "Gedächtnisstütze", die Breschnew im Dezember 1975 zur Vorbereitung eines Gesprächs mit dem PCF-Generalsekretär Georges Marchais diente, wurde folgerichtig beklagt, dass in den Parteitagsdokumenten des PCF "faktisch nichts über die Rolle der Revolutionstheorie" beim Kampf "für den Übergang zum Sozialismus in Frankreich" gesagt werde (274). Die im Band abgedruckten SED-Dokumente zeigen, wie Ponomarjows Einschätzungen gerade im Hinblick auf Italien immer mehr eskalierten. Während er dem PCI immer wieder vorwarf, "weder vom bewaffneten Kampf noch vom Sozialismus" zu sprechen, schien ihm im Oktober 1976 "die Situation für die Entfaltung des Klassenkampfes in Italien außerordentlich günstig" zu sein: "Wir haben der italienischen KP gesagt: Ihr steht an der Schwelle wichtiger Ereignisse, aber viel hängt von euch ab. [...] Es besteht die Möglichkeit eines friedlichen Weges, aber jede kommunistische Partei muss stets auch auf den bewaffneten Kampf vorbereitet sein". (183)
Enrico Berlinguer, der Generalsekretär des PCI, verhielt sich in dieser Lage aber nicht revolutionär, sondern staatsmännisch. Angesichts der politischen Krise in Italien formulierte er das Konzept des "historischen Kompromisses", das auf eine parlamentarische Zusammenarbeit mit den Christdemokraten abzielte. Zu einer Koalition mit der Democrazia Cristiana (DC) kam es zwar nicht, aber der PCI tolerierte DC-geführte Regierungen und bezog entschieden Stellung gegen den linksextremen Terrorismus. Als Aldo Moro, der auf Seiten der DC für den "historischen Kompromiss" eintrat, 1978 von den Brigate Rosse ermordet wurde, kommentierte Ponomarjow dies laut SED-Aufzeichnung folgendermaßen: "Das Leben vermittelt den italienischen Genossen manche Lehre (Moro)". (195) Die Auseinandersetzung zwischen KPdSU und PCI ging schließlich soweit, dass der KGB eine Kampagne zur Diskreditierung Berlinguers startete (236).
Angelpunkt der sowjetischen Strategie für die 1970er Jahre war der "Friedenskampf", der die westlichen Systemgegner sukzessive militärisch schwächen sollte und am Ende des Jahrzehnts in der Kampagne gegen den NATO-Doppelbeschluss eskalierte. Im Januar 1980 wurde in einer "Gedächtnisstütze" für Breschnews Gespräch mit Marchais darauf hingewiesen, der "Imperialismus" ziele darauf ab, "die Entspannung in eine Garantie für die Erhaltung des sozio-politischen Status quo zu transformieren". Da ihm dies nicht gelinge, unternehme er nun eine "Gegenoffensive"; die KPdSU ihrerseits tue "alles in ihrer Macht Stehende [...], um die Ausbreitung von Massenprotestbewegungen gegen die Pläne der NATO [...] zu unterstützen". (296) Wie die KPdSU der SED im Folgenden über das Gespräch berichtete, war Marchais wieder zur kommunistischen Orthodoxie zurückgekehrt, der zufolge die militärische Stärke der UdSSR die Voraussetzung für den Erfolg des PCF war: "Je stärker die Sowjetunion, desto gewisser ist der friedliche Weg zum Sozialismus in Frankreich." Berlinguer und dem PCI warf Marchais vor, die Konzeption des Kräfteverhältnisses zu "negieren" und in Italien "den Sozialismus unter den Bedingungen der NATO-Mitgliedschaft aufbauen" zu wollen (200). Unter dem Eindruck des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan verweigerte sich der PCI tatsächlich der sowjetischen Strategie und verfolgte eine Politik des "dritten Weges", die auf die Handlungsmacht einer zwischen den Blöcken agierenden Friedensbewegung setzte (68).
Dem vorliegenden Band gebührt hohes Lob dafür, diese wichtige Kontroverse innerhalb der kommunistischen Bewegung wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Der Band zeigt einmal mehr, dass die KPdSU-Spitze gemäß ihrer Ideologie, die sie als Strategie und Taktik verstand, agierte und welches Gewaltpotential daraus erwuchs. Eine Status-quo-Macht wollte die UdSSR nicht sein.
Anmerkung:
[1] W. W. Sagladin (Hg.): Die kommunistische Weltbewegung. Abriss der Strategie und Taktik, Berlin 1973, 136.
Michael Ploetz