Björn Hofmeister: Anwalt für die Diktatur. Heinrich Claß (1868-1953). Sozialisation - Weltanschauung - Alldeutsche Politik, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XII + 847 S., 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-134074-6, EUR 89,95
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In den letzten Jahren ist eine Renaissance der Forschung zur politischen Rechten im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik zu verzeichnen. Das gilt auch für den Alldeutschen Verband. Er entstand 1891 aus Protest gegen den von der Reichsleitung geschlossenen Helgoland-Sansibar-Vertrag mit Großbritannien und löste sich erst 1939 wieder auf. Obwohl er nie mehr als 39.000 Mitglieder hatte, war er bis zum Ende der Weimarer Republik ein wichtiger Faktor im radikalnationalistischen Lager. Dies hing nicht zuletzt mit der personellen Kontinuität der Verbandsführung zusammen. Heinrich Claß (1868-1953) trat 1897 dem Alldeutschen Verband bei und wirkte von 1908 bis 1939 als dessen Vorsitzender.
Zu den Alldeutschen existiert eine umfangreiche Literatur. Zudem analysierte Johannes Leicht Claß' Einfluss und Netzwerke vom Kaiserreich bis in die nationalsozialistische Diktatur. [1] Björn Hofmeister legt nun dennoch, nachdem er bereits als Herausgeber des zweiten Teils der Claß'schen Memoiren hervorgetreten ist [2], eine neue voluminöse Biographie zum langjährigen Verbandsvorsitzenden vor. Sie ist chronologisch aufgebaut und in dreizehn Kapitel gegliedert. Nach der Beschreibung der Sozialisation und des Aufstiegs Claß' in der Verbandshierarchie sowie dem vor allem im Ersten Weltkrieg forcierten Radikalisierungskurs widmet sich der umfangreichste Teil den Alldeutschen in der Weimarer Republik. Hierbei steht vor allem Claß' Beziehung zu Alfred Hugenberg und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Adolf Hitler und der NSDAP sowie zum Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im Vordergrund. Ausführlicher geht der Autor auch auf die NS-Zeit und Claß' letzte Lebensjahre in der DDR ein. Zu beidem ist bislang wenig bekannt. Innovativ ist zudem die Analyseoptik Hofmeisters, die er schon mit dem Buchtitel verdeutlicht. So geht es ihm um "Claß' Doppelidentität als Politiker und Jurist" und um den "Zusammenhang von Weltanschauung und Rechtsanschauung". (11)
Während sich bisherige Studien auf die geistesgeschichtlichen Einflüsse konzentrierten, hebt Hofmeister hervor, dass Claß' Heimat Rheinhessen für dessen Sozialisation entscheidend war. So sieht er in Mainz das "Zentrum für Claß' politische und soziale Netzwerke". (83) Vor allem zu Beginn seiner Karriere halfen ihm die Kontakte seiner Familie zu rheinhessischen Honoratioren. Als Verbandsvorsitzender konsolidierte er seine Macht auch dadurch, dass er aus der Region stammende Mitglieder in die Führungsgremien aufnahm. Obwohl Hofmeister dem Juristen Claß einen gleichwertigen Rang mit dem Politiker Claß einräumt, bleibt die Darstellung von dessen anwaltlicher Tätigkeit etwas blass. Ohnehin übte der Alldeutsche seinen Beruf nur wenige Jahre und ohne Begeisterung aus. Vielfach konzentrierte er sich dabei auf die Übernahme von politischen Prozessen. So verteidigte er Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, den die "Frankfurter Zeitung" 1918 wegen Beleidigung verklagt hatte. Leider erfährt der Leser hierbei nichts Näheres über das konkrete berufliche Wirken von Claß. Inwiefern ihn dieses tatsächlich in seinem Politikstil beeinflusst hat, bleibt unklar.
Hofmeisters' Darstellung des Alldeutschen Verbandes im Kaiserreich und in der Weimarer Republik orientiert sich an den Leitlinien der bisherigen Forschung. Dies betrifft den noch vor dem Ersten Weltkrieg eingeschlagenen antigouvernementalen Kurs mit seiner antisemitisch-rassenbiologistischen Programmatik, den Claß entscheidend mitgeprägt hat; ferner die Strategie, das eigene Diktaturkonzept mithilfe von Hugenberg und Reichspräsident Hindenburg zu realisieren; schließlich die Einbeziehung der NSDAP und Hitlers in die taktische Ausrichtung der Alldeutschen. Der Autor eröffnet dabei interessante neue Perspektiven auf das Rechtsverständnis und die Handlungsspielräume von Claß. Zwar sieht Hofmeister in ihm, wie auch Leicht, den Verfechter einer bildungsbürgerlichen Diktatur. Gestützt auch auf das Militär, sollte das deutsche Volk auf einen völkischen Staat vorbereitet werden. Bisher nicht bekannt ist, dass der Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering mit seiner soziologischen Rechtslehre die entscheidenden Ansätze für Claß' autoritäres Ordnungsdenken lieferte. Hofmeister charakterisiert Claß als "Vordenker" des 'Dritten Reichs' (777), da er "die Funktion des Staates zum Zweck allen Rechts machte und den Erhalt des Staates durch Gewaltanwendung legitimierte". (51) Wie sich diese Rechtsauffassung auf die Wahrnehmung der virulenten politischen Gewalt Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre auswirkte, wird allerdings nicht tiefergehend analysiert. So bleibt nach wie vor unbeantwortet, ob es Claß bei "rhetorischem Aktionismus" beließ [3], weil ihm für mehr die Mittel fehlten oder ob er Gewalt tatsächlich aktiv einzusetzen bereit war.
Des Weiteren verdeutlicht der Autor, dass die 1924 beginnende enge Kooperation der Alldeutschen mit Hugenberg beiden nur kurzfristige Machtzuwächse brachte. Es gelang im Oktober 1928, Hugenberg als DNVP-Vorsitzenden zu installieren, eine Machtperspektive eröffnete sich damit aber nicht. Vielmehr drohte dem Verband das eigene Profil verloren zu gehen. Wegen der zunehmend angeschlagenen Gesundheit von Claß sowie der dadurch bedingten längeren Kuraufenthalte wurden "Entscheidungen [...] verstärkt in die alldeutsche Funktionsgruppe der DNVP, besonders in den Völkischen Reichsausschuss [...] ausgelagert". (429) Claß' ab 1926 einsetzende Versuche, Hindenburg über seine engen Vertrauten dazu zu bewegen, Hugenberg zum Reichskanzler zu ernennen, scheiterten an dem schwierigen Verhältnis des Reichspräsidenten zu dem Deutschnationalen. Der alldeutsche Verbandsvorsitzende konzentrierte sich daher von 1929 bis Ende 1932 darauf, Brücken zwischen der DNVP und der NSDAP zu bauen. Hofmeister legt hierbei anschaulich dar, dass es statt einer Einheitsfront der beiden Parteien nur zu einer Verschlechterung der Beziehung zwischen Claß und Hugenberg kam. Letzterer setzte gar seine finanzielle Unterstützung für das alldeutsche Organ "Deutsche Zeitung" aus und brachte diese in existenzielle Schwierigkeiten.
Die Beziehung zwischen Claß und Hitler charakterisiert der Autor als "distanzierte Nähe". (392) Daran änderte sich mit der nationalsozialistischen Machtübernahme nichts. Claß wurde nicht NSDAP-Mitglied und zog sich weitgehend aus der Politik zurück. Er gehörte aber dem Reichstag zwischen 1933 und 1945 als Gast der NSDAP-Fraktion an. Erstmals war er aufgrund der weitgehenden Billigung der NS-Politik dazu bereit, Konzessionen bei seinen elitären Diktaturvorstellungen hinzunehmen. Gänzlich zu überwinden vermochte er diese aber nicht. Insofern charakterisiert ihn Hofmeister als "Übergangsfigur" zwischen altem und neuem Nationalismus (759). In Claß' letzten Lebensjahren, die er in Jena verbrachte, blieb er von den Alliierten und der DDR-Staatssicherheit gänzlich unbehelligt und schien gleichsam vergessen.
Wiederholt finden sich bei Hofmeister Redundanzen. Exemplarisch sei hier die zweimalige Paraphrasierung eines Briefs von Otto Fürst zu Salm-Horstmar angeführt, dessen Quintessenz fast wortgleich wiedergegeben wird (588, 598). Angesichts des Umfangs der Biographie hätte Kürzungspotential bestanden. Gerade zum Ende hin häufen sich die Rechtschreibfehler. Dank der Auswertung auch bislang wenig beachteter Nachlässe wie des völkischen Verlegers Julius F. Lehmann legt Hofmeister aber insgesamt eine lesenswerte Studie vor. Sie liefert einen substanziellen Beitrag zur Forschung über die politisch heterogene Rechte, insbesondere im Hinblick auf die Endphase der Weimarer Republik. Und sie zeigt eindrücklich auf, dass Claß zwar bestens vernetzt war, ihm seine Kontakte aber im Zeitalter der Massenpolitik immer weniger Einfluss verschafften.
Anmerkungen:
[1] Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012.
[2] Björn Hofmeister (Hg.): Heinrich Claß. Politische Erinnerungen des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes 1915-1933/36, Berlin 2022.
[3] Johannes Leicht: Heinrich Claß 1868-1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012, 419.
Wilke Tepelmann