Jörn Retterath: "Was ist das Volk?". Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917-1924 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 110), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, VIII + 462 S., ISBN 978-3-11-046207-4, EUR 89,95
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Eine naheliegende Aktualisierung hat sich Jörn Retterath in der Einleitung seiner überarbeiteten Münchener Dissertation von 2013 entgehen lassen, wenn er dort schreibt, dass der Volksbegriff in der deutschen Politik vermieden werde, weil er nationalsozialistisch kontaminiert sei. Tatsächlich erkennt man daran, was sich innerhalb weniger Jahre geändert hat: Heute ist dieser Begriff in der öffentlichen politischen Sprache wieder angekommen. Ausgelöst haben das wohl Gruppen von jeweils wenigen Tausend Menschen, die - offenbar sinnwidrig - "wir sind das Volk" skandieren und die Exekutierung des nach ihrer Vorstellung wohl evidenten "Volkswillens" einfordern, oder einzelne, die versuchsweise den noch viel stärker verfemten Begriff des "Völkischen" rehabilitieren wollen; und inzwischen ist in der politischen Diskussion sogar strittig geworden, ob der Begriff "das Volk" nun die in Deutschland lebenden Menschen oder nur dessen Staatsangehörige umfassen solle [1] - und natürlich auch, wer für die Definition des Begriffs zuständig sei. Anders als in den Naturwissenschaften sind eben in der politischen Sprache Begriffe in ihrer Bedeutung nicht per Definition geklärt, sondern diese Bedeutungen müssen ausgehandelt werden, wobei die Auseinandersetzung über die Festlegung der Inhalte selbst ein Teil des politischen Machtkampfs sein kann.
So hat Retteraths Studie einen vor wenigen Jahren noch ungeahnten Gegenwartsbezug erlangt. Die Diskussion um den Volksbegriff ist jedoch keinesfalls neu, wie er aufzeigen kann. "Was ist das Volk?" liefert den Titel mit einem Zitat aus dem "Vorwärts" vom November 1918 (4), und im Folgenden untersucht er den Gebrauch dieses Begriffs, seiner Komposita und Synonyma und dahinterstehender Gemeinschaftsvorstellungen in der Umbruchphase vom Kaiserreich zur Republik, die er für die Jahre 1917-1924 ansetzt. Geprüft wird dabei die Anwendung für die "Parteien der Mitte", also diejenigen Parteien, die bis 1924 einer Regierungskoalition der Republik angehörten (SPD, Zentrum, DDP und DVP) und sich damit grundsätzlich (wenn auch manchmal mit Abstrichen) zu Republik und Demokratie bekannten. Gelegentliche Seitenblicke auf die übrigen politischen Kontrahenten (DNVP, Völkische, USPD, KPD) dienen der Kontrastierung oder auch dem Nachweis der Verwischung der Lager. Die überaus reiche Quellengrundlage bieten Leitartikel ausgewählter und jeweils Parteien zuzuordnender Tageszeitungen sowie Parlaments- und andere Reden und zeitgenössische Schriften von Politikern. Vereinzelt werden sogar ausgesprochen originelle Quellen genutzt, wie etwa Kreuzworträtsel in der Vossischen Zeitung, um Synonyma zu identifizieren.
Nach einem instruktiven Rückblick auf die Entwicklung der Begriffe des von ihm abgesteckten Begriffsfeldes (Volk, Nation, Rasse, Masse, Stamm, usw.) vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum entdeckt Retterath als idealtypische Ausprägungen einerseits einen pluralistischen Gebrauch des Begriff, der also zulässt, dass das "Volk" im Sinne von Demos aus Individuen oder Gruppen mit ggf. unterschiedlichen Interessen besteht, und andererseits einen holistischen Begriff, der letztlich das Volk als Körper mit allen entsprechenden Metaphern (z.B. "Volksseele") versteht und dafür einen rein ethnischen Volksbegriff zugrunde legt. Für den Weltkrieg lässt sich recht eindeutig zeigen, dass nach dem Zerfall des Burgfriedens linke und linksliberale Stimmen das "Volk" mit dem Fortgang hin zum Kriegsende und zur Revolution vom November 1918 mehr und mehr als "Demos" verstanden und dies mit der Forderung nach Demokratisierung verbanden, während rechte Stimmen (und schwankend auch die Nationalliberalen, also die spätere DVP) "Volk" noch mehrdeutig verwendeten und dabei überwiegend in einem holistischen Sinne, etwa dem des "Volkskörpers" oder der "Gemeinschaft", ohne dass damit tatsächlich demokratische Gedanken verbunden gewesen wären. Somit liegt spätestens hier ein Auseinandergehen zwischen den späteren republiktreuen Kräften und den Rechten im Begriffsgebrauch vor: Die einen setzen auf das Volk im Sinne des Demos, die anderen trauern am Weltkriegsende der verlorenen "Einheit" des Volkes im Sinne des Ethnos nach. Eine weitere Differenzierung erlaubt eine bekannte Quelle: Scheidemann appellierte in seiner Proklamation der Republik vom 9. November 1918 an das "deutsche Volk", das über das alte Regime gesiegt habe, und verwendete diesen Begriff damit ambivalent einerseits als Plebs, andererseits als Demos. Mit letzterem grenzten er und die MSPD sich in der Folge auch von den Forderungen der USPD ab, die sich an "Arbeiter und Soldaten" (Liebknecht) wandte, also lediglich die "plebs" als Träger der Staatsgewalt sehen wollte.
Für die Folgezeit bestätigen sich diese Befunde im Wesentlichen, ohne dass hier auf alle der zahlreichen von Retterath herausgearbeiteten Details eingegangen werden kann. Was genau das Volk meint, wo es etwa in den Verfassungsdiskussion von 1919 und deren Ergebnis Erwähnung findet, kann unterschiedliche Hintergründe haben, und das sogar in ein und demselben politischen Lager: Ob "das Volk" aus Art. 1 der Reichsverfassung, von dem alle Gewalt ausgeht, nun pluralistisch oder holistisch gemeint ist, kann nicht leicht entschieden werden (im Gegensatz zu dem entsprechenden Art. 20 des Grundgesetzes, wo eben zusätzlich geklärt ist, dass dies durch Wahlen geschieht - somit kann dort das Volk nur als Demos verstanden sein). In der Frage um die Annahme des Versailler Vertrags blühen dann allerorten die ethnisch fundierten "Volkskörper"-Metaphern, wenn von Amputationen und ähnlichem - übrigens in allen politischen Lagern - gesprochen wurde. Auch in der Folgezeit, den krisenhaften Jahren bis 1924, lassen sich selbst innerhalb der einzelnen Parteien durchaus unterschiedliche Verwendungen von Volk, Nation, Gemeinschaft feststellen, wobei aber in der Tendenz deutlich wird: In der SPD und bei den Linksliberalen wird "Volk" überwiegend (aber eben auch nicht durchgängig) als "Demos" verstanden; im Zentrum wird dies häufig mit einer christlichen Fundierung assoziiert; bei Rechtsliberalen ist der Gebrauch in seiner Bedeutung sehr ambivalent. Dies lässt sich auch sehr gut am Begriff der "Volksgemeinschaft" festmachen, der von allen Gruppen verwendet, aber durchaus unterschiedlich verstanden wird. Im Fazit kommt Retterath zu dem überzeugenden Ergebnis, dass etwa bei diesem Begriff, aber auch allgemeiner bei der Verwendung von "Volk" es den republiktragenden Kräften mangels eindeutiger Füllung nicht gelang, ihr Verständnis der jeweiligen Begriffe zu den allein akzeptierten zu machen. Dies ermöglichte später den Feinden der Republik, die Begriffe selbst inhaltlich zu prägen, und zwar in einer rein ethnisch-holistischen oder gar rassistischen Bedeutung, wie es die Nationalsozialisten mit dem "Volksgemeinschafts"-Begriff erreichten.
Für den eingangs erwähnten Gegenwartsbezug bestätigen Retteraths Ergebnisse somit eine Erkenntnis, die auch eine Gegenwartslehre in sich birgt: Die Auseinandersetzung über Begriffe und vor allem über die Deutungshoheit für solche Begriffe ist in einer Demokratie keine Nebensächlichkeit, sondern kann für sie zur Existenzfrage werden.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa die Diskussion im Anschluss an eine Rede von Bundeskanzlerin Merkel vom 25. Februar 2017 in Stralsund; https://www.welt.de/politik/deutschland/article162417020/Finden-Sie-das-Volk-ist-jeder-der-in-diesem-Lande-lebt.html .
Wolfgang Elz