Robert Henderson: Vladimir Burtsev and the Struggle for a Free Russia. A Revolutionary in the Time of Tsarism and Bolshevism, London: Bloomsbury 2017, XIV + 353 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-1-4725-7889-1, GBP 85,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andreas Wirsching / Jürgen Zarusky / Alexander Tschubarjan u.a. (Hgg.): Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Gerhard Wettig: Die Stalin-Note. Historische Kontroversen im Spiegel der Quellen, Berlin: BeBra Verlag 2015
David King: Ganz normale Bürger. Die Opfer Stalins, Essen: Mehring Verlag 2012
Deutsches Historisches Museum / Schweizerisches Nationalmuseum (Hgg.): 1917 Revolution. Russland und die Folgen. Essays, Dresden: Sandstein Verlag 2017
Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie, München: Siedler 2015
Trotz seines hohen Bekanntheitsgrades in der revolutionären Bewegung hat Vladimir Burcev (1862-1942) nie die Aufmerksamkeit der Forscher erhalten, die anderen russischen Sozialisten zuteilgeworden ist. Dies ist bedauerlich, denn schon allein die enorme Auflage der Zeitschrift Byloe (Das Vergangene) hätte ein solches Interesse begründet. Die Zeitschrift diente der Popularisierung des Kampfes gegen die Autokratie im Stil der von Burcev verehrten sozialrevolutionären Organisation "Narodnaja Volja" (Volkswille) und enthielt das, was man heute als Schlüsseldokumente der revolutionären Bewegung bezeichnen kann. Bedeutend für die Geschichte der Revolutionsbewegung ist ferner die 1897 veröffentlichte Quellensammlung Za sto let (Aus 100 Jahren). Burcev spielte auch eine wichtige Rolle bei der Entlarvung des bekanntesten Agents Provocateurs der russländischen Geschichte Evno Azefs und anderer Spitzel. Er warnte früh vor Vladimir Lenin und nahm den Kampf mit dem bolschewistischen Regime auf. In den 1930er Jahren arbeitete er zusammen mit anderen Emigranten für die Klägerseite auf dem Berner Prozess. Bei diesem Prozess handelte sich um einen international beachteten Strafprozess in der Zeit zwischen 1933 und 1935, in dessen Mittelpunkt Zeugenbefragungen und Expertisen zur aktuellen Verwendung der "Protokolle der Weisen von Zion" standen. Burcevs späte Jahre waren von Armut geprägt. Doch auch unter widrigen Bedingungen setzte er seinen Kampf für ein "freies Russland" fort. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass mit Hendersons sehr interessantem, wenn auch nicht unproblematischem Buch endlich die erste umfassende Biografie des politischen Aktivisten vorliegt.
Das Buch beschreibt größtenteils chronologisch den politischen Werdegang des Aktivisten. Der Fokus liegt auf Burcevs "politischen und journalistischen Aktivitäten" und seiner Verfolgung seitens russischer, britischer und später sowjetischer Behörden. Der Autor unterteilt Burcevs bewegtes Leben in drei Perioden, denen die Aufteilung des Buches in drei Großkapitel entspricht. Teil eins thematisiert Burcevs Erfahrungen mit dem zarischen Regime und seinem Unterdrückungsapparat, Burcevs Radikalisierung und politische Tätigkeit in der Londoner Emigration und schließlich die Rückkehr ins revolutionäre St. Petersburg des Jahres 1905. Teil zwei behandelt die Pariser Jahre, Burcevs energischen Kampf gegen die "Provokation" in den Reihen der Revolutionäre sowie seine Rückkehr ins Petrograd des Jahres 1917. Teil drei fällt etwas kürzer aus und umfasst Burcevs letzte Emigrationsjahre im "weißen Paris", die Kooperation mit rechten Kräften der Emigration sowie Burcevs Rolle im Berner Prozess. Als "eines der Ziele" des Buches wird die Beantwortung der Frage nach den Veränderungen in Burcevs politischen Ansichten definiert (5).
Beeindruckend an dem Buch ist, wie viele Primärquellen der Autor gesichtet und ausgewertet hat. Sie stammen aus 14 Archiven in Russland, Frankreich, den USA, Großbritannien und den Niederlanden. Diese sicherlich mühevolle Arbeit hat sich gelohnt: Die Darstellung ist sehr detailreich geworden. Auch Zeitungsartikel werden berücksichtigt. So werden die nationalen und internationalen Reaktionen auf Burcevs Aktivismus deutlich. Besonders gelungen sind die Passagen, in denen der Autor die Arbeit der (Geheim)Polizei rekonstruiert. Trotz der Fülle der Quellen liest sich das Buch flüssig, was dem guten Stil des Autors zu verdanken ist.
Die Studie hat aber auch ihre Schwächen. Der Autor hat eine Beziehung zu seinem Protagonisten entwickelt, die zuweilen unkritisch wirkt. Das spürt man von den ersten Seiten an, auf denen Henderson den in der Publizistik angestellten Vergleich von Burcev mit Julian Assange nachdrücklich befürwortet (5), bis zum letzten Kapitel, in dem der Autor seine "erste Pilgerfahrt" (253) zum Grab des Revolutionärs beschreibt. Manchmal geht dies mit einer nicht genügenden Unterscheidung zwischen Quellen und analytischen Begriffen einher. So wird ein Anschlag als "Hinrichtung" (15) bezeichnet (ein von den Revolutionären selbst verwendeter Euphemismus). Dazu passt auch, dass der Autor die Ermordung einer weiteren Person verschweigt. An anderer Stelle werden Petr Karpovič und Stepan Balmašev "revolutionäre Märtyrer" (im Text ohne Anführungszeichen) genannt, ohne dass deutlich wäre, ob hier Hendersons seine eigene Wertung ins Spiel bringt oder lediglich seine Quelle referiert (111). Des Weiteren wird Boris Savinkov ohne jegliche Begründung als der "prinzipientreueste und ehrenwerteste aller Revolutionäre (most principled and honourable of revolutionaries)" (232) beschrieben, was nicht nur frappierend an einige Selbstzuschreibungen der historischen Akteure erinnert (blagorodstvo, revoljucionnaja čest'), sondern schlichtweg falsch ist: Gerade Savinkov hatte bekanntlich ein recht kompliziertes Verhältnis zu revolutionären Moralvorstellungen.
Vladimir Burcev tritt uns in den Rollen des Journalisten, Gelehrten, Revolutionärs und Propagandisten des Terrorismus in Erscheinung. Diese Rollen scheinen sich widerspruchsfrei zu ergänzen. Nicht thematisiert wird etwa, welche Auswirkungen die Terrorismuspropaganda auf Burcevs Veröffentlichungspraktiken hatte. Ein Gesamtbild muss sich der Leser auf der Grundlage verstreuter Passagen selbst erarbeiten. So berichtet Henderson, wie Burcev Stellen aus den Texten seiner Kollegen strich, weil diese ihm nicht radikal genug waren, führt dies aber offenbar auf Burcevs schwierigen Charakter zurück. Dies ist insofern falsch, als dessen redaktionellen Eingriffe einer bestimmten Logik folgten. Deutlich wird dies an der Veröffentlichung der "Beichte" des Ex-Provokateurs Sotnikov (Byloe Nr. 14, 1912). Burcev strich fast sämtliche Passagen, in denen der Anarchist über seine schweren Gefühle sprach. Mit dieser Intervention und einem moralisierenden Vorwort wollte Burcev sicherstellen, dass der Leser keine Sympathien mit dem Ex-Provokateur entwickelte. Im Kontrast dazu stehen die Dokumente, die explizit oder implizit die Ermordung von "Spionen" rechtfertigen. Zumindest verschweigt Henderson nicht, dass Byloe eine antisozialdemokratische Stoßrichtung hatte. Er relativiert aber sogleich den Sachverhalt mit dem Verweis darauf, dass Sozialdemokraten nicht per se von der Zusammenarbeit ausgeschlossen waren. Auch zitiert der Autor eine längere Passage, aus der hervorgeht, dass Geschichte für Burcev eine tagespolitische Bedeutung hatte. Diese Passage lässt er aber unkommentiert stehen. Es wird auch nicht thematisiert, dass Burcevs Veröffentlichungspraktiken selektiv waren. Am Beispiel der Publikationsgeschichte von Dokumenten zur Degaev-Affäre etwa hätte sich zeigen lassen, wie Burcev bestimmte Informationen zurückhielt und Dokumente veröffentlichte, die dem terroristischen Kampf förderlich waren.
Die Forschung belegt recht deutlich, dass Sympathie und Unterstützung ein wesentliches Element der terroristischen Praktiken waren. Es ist also keinesfalls so, dass Byloe ein "klares Bild der Geschichte der revolutionären Bewegung aus oppositioner Sicht (clear picture of the history of the revolutionary movement from an opposition viewpoint)" (122) zeichnete.
Der unkritische Umgang mit Quellen zeigt sich auch an anderen Stellen, etwa wenn die Wandlung Lev Tichomirovs vom Terroristen zum Monarchisten zum Resultat eines Psychokriegs erklärt wird, oder wenn Äußerungen Nikolaus II. angeführt werden, deren historische Authentizität unglaubwürdig ist.
Problematisch ist ferner der Umgang mit Forschungsliteratur. So wird im Unterkapitel zum Russischen Nationalkomitee das Buch des bekannten Holocaust-Leugners Michail Nazarov "Die Mission der russischen Emigration" als ernstzunehmende wissenschaftliche Studie behandelt. Das Unterkapitel enthält insgesamt vier Verweise auf Forschungsliteratur, ganze drei davon auf Nazarovs Buch. Schlägt man jedoch die entsprechende Stelle auf, stellt man fest, dass Nazarovs Darstellung weder Quellen- noch Literaturverweise enthält. Auch die Darstellung des Berner Prozesses kommt fast ohne Forschungsliteratur aus und enthält darüber hinaus eine Reihe faktischer Fehler. Leser, die sich für Burcevs Rolle auf und nach dem Prozess interessieren, kommen um Michael Hagemeisters "Die 'Protokolle der Weisen von Zion' vor Gericht" nicht herum. Das Buch ist 2017 erschienen, Henderson konnte es aber noch nicht kennen.
Was die anfangs aufgeworfene Frage nach Burcevs Zusammenarbeit mit der politischen Rechten angeht, so ist sich der Rezensent auch nach mehrmaligen Lesen nicht sicher, ob der Autor von einem signifikanten Wandel der politischen Ansichten Burcevs nach 1917 ausgeht oder ob die Rede lediglich von einer Anpassung der Taktik ist.
Trotz aller Kritik muss Henderson Verdienst gewürdigt werden, die erste Biografie Vladimir Burcevs, eines wichtigen Vertreters der revolutionären Bewegung, verfasst zu haben.
Vitalij Fastovskij