Emil Brix / Klaus Koch / Elisabeth Vyslonzil (eds.): The Decline of Empires (= Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts; Bd. 26), München: Oldenbourg 2001, 192 S., ISBN 978-3-486-56594-2, EUR 29,80
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Alexander J. Motyl: Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires, New York: Columbia University Press 2001, 128 S., ISBN 978-0-231-12110-1, USD 35,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Der Sammelband "The Decline of Empires" vereinigt dreizehn überarbeitete Beiträge einer internationalen Konferenz, die das österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut (Wien) und das Österreichische Kulturinstitut (London) 1998 in der englischen Hauptstadt veranstalteten. Im Unterschied zu den konjunkturellen Kompendien der letzten Jahre über die Bedeutung historischer Reichsbildungen ist keine empirische Rekapitulation der Ereignisse beabsichtigt. Vielmehr sollen die Grundmuster erkundet werden, nach denen das Osmanische Reich, die Habsburgermonarchie und das Zarenimperium zu Beginn des 20. Jahrhunderts kollabierten und welche Spuren die historische Erinnerung an diese Vorgänge in den Köpfen der mittel- und osteuropäischen Bevölkerungen hinterlassen hat. Ergänzend werden das Britische Empire und die Sowjetunion einbezogen. Anknüpfungspunkte sind die aktuellen Debatten über Ethnizität, Legitimität und Kulturimperialismus, aber auch Probleme der europäischen Einigung.
Nicht alle Beiträge lösen das Versprechen einer theoriegeleiteten Durchdringung des immensen historischen Stoffes und einer gegenwartsbezogenen Fokussierung in der wünschenswerten Prägnanz und Pointierung ein. Schon im Umfang divergieren sie stark. Obgleich ein vergleichender Ansatz unverkennbar ist und in der einen oder anderen Weise über Niedergangsszenarien reflektiert wird, bestehen untereinander nur recht lose Verknüpfungen.
In höchst anregenden, thesenartig zugespitzten Essays schreiten einige Autoren auf wenigen Seiten den Problemhorizont des Themas ab, während andere ausführlich kaum umstrittene Sachstände referieren. Nicht immer findet dabei der aktuelle Forschungsstand Berücksichtigung, was der Argumentation gelegentlich die Spannung nimmt. So liegt der Wert der Sammlung mehr in einzelnen Denkanstößen als in einer systematischen Theoriedebatte über die Existenzgrundlagen, Überlebensstrategien und Verfallsursachen der "letzten" Imperien sowie über deren Wechselverhältnis mit den Einzelgliedern an den Rändern. Emil Brix (Wien) etwa untersucht die Bedeutung der Kultur beim Reichsverfall, Arnold Suppan (Wien) den Zusammenhang von Außenpolitik und Nationalitätenkonflikten, Norman Stone (Ankara) die imperiale Funktion des Militärs, Valeria Heuberger (Wien) die Sonderentwicklung des Islam auf dem Balkan, Alan Sked (London) den Determinismus der allgegenwärtigen These vom "Verfall" und Klaus Koch (Wien) die Koinzidenz zwischen dem verlorenen Großmachtstatus und einer eher kulturell motivierten Nostalgie. Ein Beispiel ebenso souveräner wie herausfordernder Hypothesenbildung bietet Dominic Lieven (London) mit seinem Vergleich der Endphasen des zarischen und des sowjetischen Reiches. Er legt gängige Deutungsclichés frei, verweist auf langfristig wirksame Faktoren von Aufstieg und Niedergang, erinnert an offenkundig personenabhängige Verläufe oder fragt nach den Kriterien erfolgreicher beziehungsweise gescheiterter Transformationen.
Stringenter als der lose Sammelband löst Alexander J. Motyl monografisch die Aufgabe, eine Phänomenologie von Reichen nach Überschreiten ihres Bedeutungszenits theoretisch zu durchdringen. Der Politikwissenschaftler von der Rutgers University in Newark zieht die Summe eigener jüngerer Aufsätze und vertieft die Frage nach den Gründen für Aufstieg und Verfall. Dabei nutzt er nicht nur das reiche empirische Material der historischen Forschung, sondern bezieht wirtschaftliche, soziale, monetäre, demographische und militärische Kennziffern in seine komparatistischen Überlegungen ein, welche Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, das Zarenimperium und die Sowjetunion sowie das Wilhelminische Kaiserreich umspannen.
Ziel Motyls ist es, ein differenziertes Paradigma zur Analyse und Erklärung der sehr unterschiedlichen Verläufe der Reichsgeschichten zu entwickeln. Der Autor definiert ein Imperium als hierarchisch organisiertes politisches System mit einer ringartigen Struktur, in der die Elite des staatlichen Zentrums die Eliten und Gesellschaften an den Peripherien beherrscht und alle Interaktionen und Ressourcentransfers vermittelt. Vergleiche historischer mit aktuellen Konstellationen scheut er nicht, wenn er die offene Situation der gegenwärtigen post-imperialen Mächtekonstellation unterstreichen will: Ein Scheitern der Osterweiterung der EU oder denkbare soziale und ökonomische Fehlentwicklungen nach der Währungsunion könnten die europäische Staatenordnung gefährden. Ebenso müssten Rückschläge bei NATO-Einsätzen den Zusammenhalt des Bündnisses erschüttern. Russlands Schwebezustand zwischen post-imperialer Abnutzung und neo-imperialen Stabilitätsversuchen, die vor allem auf den beträchtlichen Naturschätzen aufbauen, weise ebenso in eine keineswegs eindeutige Zukunft.
Motyls polyvalente Theorie überzeugt gerade deshalb, weil sie Diskontinuitäten, Ungleichzeitigkeiten und Gegensätze nicht einebnet. Das Beispiel Wiens um 1900 zeige etwa, dass Verfallserscheinungen und Innovation eng beieinander liegen könnten.
Nikolaus Katzer