Thilo Baier: Italiens Österreichpolitik 1934-1938 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 91), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2014, 152 S., ISBN 978-3-8300-7518-9, EUR 68,80
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Klaus Koch / Elisabeth Vyslonzil (Hgg.): Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918-1938. Zwischen Mussolini und Hitler - 10. August 1934 bis 24. Juli 1936 (= Fontes rerum Austriacarum. II. Diplomataria et Acta; Bd. 96), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2014, 459 S., ISBN 978-3-7001-7558-2, EUR 90,00
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A posteriori sieht alles ganz folgerichtig und einfach aus. Vom deutsch-italienischen Einvernehmen im Jahr 1933 über die Ausrufung der "Achse" im November 1936 bis zum Abschluss des sogenannten Stahlpakts im Mai 1939 scheint eine gerade Entwicklungslinie zu verlaufen. Das nationalsozialistische Deutsche Reich und das faschistische Italien zogen sich wie zwei starke Magneten an und schlossen sich 1939/40 fast automatisch zu einer Raub- und Expansionskoalition zusammen, deren Aggressivität nahezu die ganze Welt gegen sie aufbrachte.
Dass es diesen Automatismus nicht gab, ist aber ebenso klar wie der Hauptgrund, der ihm im Wege stand: die Österreich-Frage, die Hitler ganz anders beantworten wollte als Mussolini. Der Hochstimmung von 1933 folgte deshalb eine rasche Abkühlung und schließlich ein veritabler Wettersturz, der im April 1935 in Stresa seine deutlichsten Wirkungen zeigte: Italien und das Deutsche Reich schienen sich feindlich gegenüber zu stehen und hätten wohl auch so rasch keinen gemeinsamen Nenner mehr gefunden, wenn Mussolini nicht in Ostafrika militärisch aktiv geworden wäre und damit die guten Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien ruiniert hätte. Nach dem Krieg in Äthiopien begann die Wiederannäherung des außenpolitisch isolierten Italien an das Deutsche Reich - mit den entsprechenden Folgen für Österreich, das von Rom nun zwar nicht sich selbst überlassen wurde, für Italien aber doch rasch an Bedeutung verlor. Es sei im Interesse Italiens, dass Österreich "ein unabhängiger Staat" bleibe, meinte Mussolini im Februar 1938, "dieses Interesse ist aber nicht so groß, dass man es mit einem Krieg verteidigen sollte" (131), nicht einmal ein grundlegender Kurswechsel in den stark verbesserten Beziehungen zu Deutschland sollte deswegen riskiert werden. Damit war eigentlich alles gesagt und der Weg frei für den "Anschluss", der im März 1938 vollzogen wurde.
Die Grundzüge dieses Auf und Ab im Ringen um Österreich sind bekannt. Im Einzelnen besteht aber noch immer viel Klärungsbedarf, so dass man die Studie von Thilo Baier über "Italiens Österreichpolitik 1934-1938" mit gespannter Aufmerksamkeit zur Hand nimmt.
Das Buch besteht aus zwei Teilen, wobei sich der Autor an der Chronologie der Ereignisse orientiert. Im ersten Teil geht es um die "Grundlinien und -interessen der italienischen Außenpolitik im europäischen Kräftefeld nach dem Ersten Weltkrieg", im zweiten Teil - dem eigentlichen Kern der Studie - auf gut neunzig Seiten um den "Wandel der italienischen Position" von der energischen staatlichen Reaktion auf den Putsch österreichischer Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 bis zur Akzeptanz des "Anschlusses" an das Deutsche Reich. Viel Neues erfährt man allerdings weder im ersten noch im zweiten Teil - und das ist auch kein Wunder: Der Autor hat kein einziges Archiv konsultiert. Seine Studie basiert ausschließlich auf gedruckten Akten, Memoiren und Sekundärliteratur, die freilich eher selektiv zu Rate gezogen wurde und nicht immer dem neuesten Stand entspricht. Hinzu kommt, dass der Autor alle neueren methodischen Ansätze auf dem Felde der Diplomatiegeschichte souverän ignoriert und schwer verzeihliche handwerkliche Schnitzer macht - etwa wenn er deutschen und österreichischen Politikern italienische Zitate in den Mund legt, ohne klar zu sagen, wer diese Passagen zu verantworten hat, aus welchem Dokument (bzw. aus welchen Memoiren) sie stammen und wann sie entstanden sind. Sachliche Unsicherheiten sind angesichts dieser Defizite fast vorprogrammiert. Gibt es wirklich keine eindeutigen Beweise, dass Hitler vom Juli-Putsch der österreichischen Nationalsozialisten wusste? Waren die italienischen Faschisten an dem Mordanschlag auf den jugoslawischen König Alexander und auf den französischen Außenminister Barthou tatsächlich nicht beteiligt? War Mussolini wirklich so naiv, dass er nach dem deutsch-österreichischen Vertrag vom Juli 1936 glaubte, die Österreich-Frage sei definitiv gelöst? Kann man den italienischen Krieg am Horn von Afrika im Ernst als einen "vergleichsweise banalen Kolonialkrieg" (139) bezeichnen?
Die Verharmlosung des Faschismus, die hier mitschwingt, resultiert nicht zuletzt aus einer völlig unkritischen Rezeption der Thesen von Renzo De Felice, die in der internationalen Faschismusforschung längst nicht nur in Zweifel gezogen, sondern widerlegt worden sind. Mussolini war mitnichten nur ein auf Italiens Interessen bedachter Realpolitiker, der dabei auch mit skrupelloser Hemdsärmeligkeit zu Werke gehen konnte, wie De Felice und in seinem Fahrwasser Thilo Baier glauben machen wollen, sondern ein hemmungsloser Imperialist und überzeugter Rassist - im Krieg in Äthiopien lieferte er dafür schon 1935/1936 den schlagenden Beweis.
Was in dem von Thilo Baier leider nicht annähernd ausgeschöpften Thema steckt, macht eine ebenfalls 2014 erschienene Aktenpublikation deutlich, die hier nur kurz angezeigt werden kann: Es handelt sich um Band 10 der "Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich 1918-1938", der den Titel "Zwischen Mussolini und Hitler" trägt. Baier hätte aus diesen Dokumenten viel erfahren können über die österreichische Politik von 1934 bis 1936, die bei ihm fast gänzlich vernachlässigt bleibt, wiewohl sie für das Verständnis der italienischen Österreichpolitik natürlich unverzichtbar ist. Der Band versammelt 184 Dokumente, die den Zeitraum vom ersten Treffer des neuen österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg mit Mussolini im August 1934 bis zum 24. Juli 1936 betreffen, also auch noch die internationalen Reaktionen auf das deutsch-österreichische Juli-Abkommen widerspiegeln. Die Dokumente stammen fast ausschließlich aus dem Archiv der Republik, wobei interne Aktenvermerke und Gesprächsnotizen, Berichte von Gesandten, Schreiben und Erlasse des Außenministers sowie private Briefe den Löwenanteil bilden. Wenn es an dieser Edition überhaupt etwas zu kritisieren gibt, dann ist es die überaus sparsame Kommentierung und die fast ausschließliche Konzentration auf eine Provenienz, das Archiv der Republik. Ansonsten entspricht die Edition mit dem Versuch einer orientierenden Einleitung von Klaus Koch und mit ihren Orts-, Namens- und Sachregistern durchaus internationalen Standards.
Hans Woller