Rezension über:

Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hgg.): Edvard Beneš und die tschechoslowakische Außenpolitik 1918-1948 (= Wiener Osteuropa Studien; Bd. 12), 2., durchges. Aufl., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 195 S., ISBN 978-3-631-50532-8, EUR 35,30
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Rezension von:
Jaromír Balcar
Institut für Geschichte, Universität Bremen
Empfohlene Zitierweise:
Jaromír Balcar: Rezension von: Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hgg.): Edvard Beneš und die tschechoslowakische Außenpolitik 1918-1948, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/3955.html


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Arnold Suppan / Elisabeth Vyslonzil (Hgg.): Edvard Beneš und die tschechoslowakische Außenpolitik 1918-1948

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Edvard Beneš, von 1918 bis 1935 Außenminister der Tschechoslowakischen Republik und von 1935 bis 1948 ihr Präsident, zählt bis heute zu den umstrittensten Staatsmännern Mitteleuropas. Tschechen und Deutsche bewerten sein Wirken nach wie vor sehr unterschiedlich. Das tschechische Bild ist ambivalent: Einerseits würdigt man seine Verdienste als engster Mitarbeiter Masaryks bei der Staatsgründung 1918 und als Präsident im Exil bei der Wiederherstellung der tschechoslowakischen Selbständigkeit 1945; andererseits wird nicht vergessen, dass es ihm 1938 wie 1948 nicht gelang, Freiheit und Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken zu retten. Durch die (sudeten-)deutsche Brille gesehen, erscheint Beneš dagegen als wahrer Gottseibeiuns, der von allem Anfang an zielstrebig auf die Vertreibung hingewirkt und dieses Projekt nach dem Zweiten Weltkrieg kaltherzig verwirklicht habe. Schließlich steht sein Name für die berühmt-berüchtigten Dekrete, mit denen die Vertreibung ins Werk gesetzt worden ist und die auch heute noch die politischen Beziehungen zwischen der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland belasten.

Auch die Historiographie hat sich eingehend mit Edvard Beneš beschäftigt. Der vorliegende Sammelband, der aus einem internationalen Symposion hervorging, das im November 1999 in Wien stattgefunden hat, fasst den Forschungsstand zusammen. Er versammelt zehn Beiträge deutscher, tschechischer und österreichischer Wissenschaftler, deren Qualität sehr unterschiedlich ist. Drei sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden:

Viel Neues bietet der Aufsatz von Jaroslav Kučera. Der Prager Historiker wählt mit Benešs Haltung in der Minderheitenfrage in der Zwischenkriegszeit einen besonders geschickten Zugriff, der gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Außen- und Innenpolitik ansetzt; dadurch "entdeckt" er Beneš als Innenpolitiker - ein Aspekt, der oft genug zu kurz kommt. Zunächst kontrastiert Kučera die Haltung des jungen Akademikers zu Nationalismus und Nationalitätenfrage mit der des reiferen Staatsmanns und fördert Einblicke zu Tage, die so gar nicht in das stereotype Bild eines fanatischen tschechischen Nationalisten passen wollen. Benešs Grundannahme lautete, dass Nationalitätenfrage und Demokratie in den böhmischen Ländern aufs Engste miteinander verknüpft seien. Daher ging er optimistisch davon aus, "daß der Demokratisierungsprozeß die Nationalitätenkonflikte [...] selbsttätig entschärft" (127 f.).

Als sich dieser Automatismus jedoch nicht einstellen wollte, zeigte sich schon sehr früh, dass Beneš nicht nur ein präzises Konzept fehlte, wie ein Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen zu erzielen sei. Schlimmer noch: ihm fehlte auch der politische Rückhalt im eigenen nationalen Lager. Nicht zuletzt deswegen blieben seine Handlungsspielräume auch nach 1935 relativ gering. Nach längerem Zögern ergriff der Präsident im April 1938 die Initiative und legte eine Reihe von Plänen vor, die auf einen Umbau des Nationalstaats in einen Nationalitätenstaat hinausgelaufen wären; zu diesem Zeitpunkt war es dafür freilich schon zu spät. Zudem ist nach wie vor offen, ob diese Pläne ernst gemeint oder nur taktischer Natur waren. Fest steht dagegen, dass Beneš nicht zu den tschechischen Hardlinern zählte, sondern eher zu denjenigen Politikern, die sich über die nationalen Lager hinweg kompromissbereit zeigten.

Detlef Brandes (Düsseldorf), ein ausgewiesener Kenner der Materie, beschäftigt sich mit dem Präsidenten im Londoner Exil. Dessen Politik war vom Trauma des "Münchner Abkommens" bestimmt, aus dem Beneš drei Lehren gezogen hatte: "Erstens müsse die Zahl und Größe der nationalen Minderheiten der Tschechoslowakei reduziert, zweitens das Verhältnis zu Polen verbessert und drittens die Nachkriegsrepublik durch ein Bündnis mit der Sowjetunion auf Dauer gesichert werden" (159).

Was die "Lösung der Minderheitenfrage" betraf, hielt Beneš zunächst an seiner Konzeption vom August / September 1938 fest: Danach sollten ein Teil der mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzgebiete mit etwa einem Drittel der Sudetendeutschen abgetrennt und ein weiteres Drittel der deutschen Bevölkerung im Rahmen eines Bevölkerungstransfers ausgesiedelt werden, während das letzte Drittel - vornehmlich "Demokraten, Sozialisten und Juden" (160) - bleiben sollten. Je weiter der Krieg fortschritt, desto radikaler wurden jedoch die Vertreibungspläne, bis schließlich von einem Gebietsaustausch keine Rede mehr war. Diese Entwicklung ging allerdings nicht allein auf einen Sinneswandel des Exilpräsidenten zurück. Vielmehr war sie nicht zuletzt die Folge der Radikalisierung des "Weltanschauungskriegs" sowie der brutalen deutschen Besatzungs- und Germanisierungspolitik, die sowohl im tschechischen Widerstand als auch unter den Mitgliedern der Anti-Hitler-Koalition einen Sinneswandel herbeiführten. Die verzweifelten Bemühungen sudetendeutscher Exilpolitiker um den Sozialdemokraten Wenzel Jaksch konnten daran nichts mehr ändern.

Zbynek Zeman (Oxford) beleuchtet schließlich die letzte Phase im Leben und im politischen Wirken von Edvard Beneš. Er porträtiert einen gealterten, müden und kranken Präsidenten, der mit den neuen Spielregeln der internationalen Beziehungen nicht mehr zurecht kam und von anderen überspielt wurde. Zeman illustriert dies am Beispiel der umstrittenen Nutzung der Uranminen von Jáchymov, einer Frage von enormer sicherheitspolitischer Tragweite: "Without knowing it, Beneš played a vital role in the process by which Stalin succeeded in breaking the US monopoly in nuclear arms" (183). Die Konsequenzen dieses Schrittes realisierte er offensichtlich nicht. Vor allem unterminierte er die Versuche des Präsidenten, die Tschechoslowakei als "Brücke" zwischen den entstehenden Blöcken zu etablieren, weil seine Neutralitätsbekundungen dadurch im Westen an Glaubwürdigkeit verloren. Dazu kam die völlige Fehleinschätzung der Ziele Stalins, die Beneš lange, zu lange, auf die sowjetische Karte setzen ließ. Während sich der Gesundheitszustand des Präsidenten zunehmend verschlechterte, geriet die ČSR immer enger ins Schlepptau Moskaus. Im September 1948 starb Edvard Beneš "in a world which he had helped to create, but which he no longer understood." (188)

Insgesamt bietet der Band eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes; neue, aus den Quellen gearbeitete Erkenntnisse liefert er - abgesehen vom Beitrag von Jaroslav Kučera - dagegen nicht. Besonders befremdlich ist die Tatsache, dass sich einige Autoren gar nicht oder nur ganz am Rande mit der Person von Edvard Beneš beschäftigen. Hinsichtlich des Beitrags von Alice Teichová über "Die Tschechen in der NS-Kriegswirtschaft" mag dies angehen, da diese Informationen unabdingbar sind, um die Radikalisierung der Nationalitätenpolitik des Exil-Präsidenten zu verstehen. Das lässt sich nicht vom Aufsatz Nikolas Perzis über "Die Metamorphosen des Tschechoslowakismus und Edvard Beneš" sagen; hier tritt der Protagonist erst auf den letzten drei Seiten, die aufgesetzt wirken, in Erscheinung. Völlig deplatziert ist der letzte Beitrag von Karl Peter Schwarz ("Mit der Vertreibung vollendet"), der ohnehin bereits an anderer Stelle publiziert wurde. Es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Aufsatz, sondern um eine (tages-)politische Polemik. Da seine zwar moderat vorgetragene, aber dennoch eindeutige (und streckenweise auch einseitige) Kritik an der Haltung der tschechischen Politik von heute ohne tschechisches Pendant steht, entsteht der - unzutreffende - Eindruck, hier würde eine bewertende Bilanz gezogen. Eine solche Bilanz, welche die Ergebnisse der Tagung knapp zusammenfassen und die Desiderata zukünftiger Forschungen benennen würde, fehlt nämlich leider.

Dennoch: Der Band gibt weiteren Arbeiten, die sich mit dem so sehr umstrittenen Staatsmann Edvard Beneš beschäftigen werden, eine solide Grundlage. Und er leistet einen wichtigen Beitrag, die aktuelle politische Debatte zwischen Deutschen und Tschechen zu versachlichen.

Jaromír Balcar