Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hgg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin: Berlin Edition 2002, 320 S., 167 Abb., ISBN 978-3-8148-0092-9, EUR 24,80
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Der Titel "Kolonialmetropole Berlin" mag auf ersten Blick erstaunen. Das großformatige und reich illustrierte Buch bringt jedoch Beleg um Beleg, warum entgegen dem heutigen Anschein mit einigem Recht davon gesprochen werden kann. Damit hebt es das Halbbewusste zu einem Panorama einer nur halb vergangenen Epoche des Kolonialismus und der - im Soziologendeutsch gesprochen - "interkulturellen Begegnung" in der Hauptstadt des "zweiten" und "dritten" deutschen Reiches.
Nach einem Rückblick auf die frühen Kolonisationsversuche des Großen Kurfürsten im 17. Jahrhundert wird Berlin in seinem politischen und institutionellen Gefüge als Zentrale einer jungen "Weltmacht" beschrieben, die in Bismarcks Berliner Konferenz von 1884/85 sogleich versuchte, sich an der Spitze der Kolonialnationen zu etablieren. Von hier aus wurde die Politik in den deutschen Kolonien gestaltet, hier wirkten die Lobbyisten und alle wichtigen Kolonialverbände, hier schlug sich - wenn auch nur marginal - die Kolonialwirtschaft nieder, mehr jedoch die Kolonialwissenschaften und diejenigen Initiativen, die den Kolonialismus bei der Bevölkerung des Kaiserreiches bekannt machen sollten. So gab es ein Kolonialpanorama, Völkerschauen oder Kolonialausstellungen, koloniale Handelshäuser und Kolonialmuseen, die heute längst nicht mehr existieren. Erstaunlich viele Relikte sind jedoch nach wie vor präsent, und das Buch bietet hier gleichsam einen Wegweiser zu den "Erinnerungsorten" und den Stätten kolonialer Überreste im Berliner Stadtbild - nicht nur Straßennamen, auch Werbeträger (so der bis heute bekannte, aber erst 1920 "erfundene" Sarotti-Mohr), Friedhöfe und Denkmäler, Filme oder Kleingartenanlagen, die ihren "Kolonien" die Namen deutscher Stützpunkte in der Ferne gaben.
So werden verschüttete Traditionen aufgedeckt oder Biografien "deutscher Afrikaner" beziehungsweise "farbiger Deutscher" mitgeteilt, die sich in oft erniedrigender Weise der populären Schaulust ergeben mussten. Aber auch die wissenschaftliche Neugier legte bei passender wie unpassender Gelegenheit ihre Messinstrumente an ihnen an - und interpretierte die Ergebnisse doch selten vorbehaltlos. Die Lebenswege farbiger Deutscher in der afrikanischen Diaspora schwankten zwischen einer stets prekären bürgerlichen Existenz und der Herabwürdigung zum "Schauneger". Dabei waren viele von ihnen durchaus "ehrbar" beschäftigt, etwa in Lehrberufen, bisweilen im Handels- oder Dienstleistungsgewerbe, oft als Musiker oder Artisten und - bisweilen unfreiwillig - im Film- und Schaugewerbe.
Manchmal sind es Berliner Gebäude, manchmal Straßen, Namen oder Worte, die auf Restbestände einer Epoche verweisen, die Deutschland insgesamt stark mitgeprägt hat. Dem Band wären denn mit Leichtigkeit weitere an die Seite zu stellen, vor allem über Hamburg, aber auch andere Orte, für welche die Epoche des Kolonialismus eine wichtige Durchgangsstation ihrer Geschichte darstellte. Viele heute noch existente Institutionen, man denke an den Botanischen Garten oder an medizinische Tropeninstitute, lassen sich darauf zurückführen. Martin Baer hat jüngst in seinem Film "Die Kopfjagd" (und auch in diesem Band) daran erinnert, wie voll die Schränke und Keller deutscher Museen noch heute von Sammlungsstücken der Kolonialzeit sind. Sein Film "Befreien Sie Afrika!" war vor einigen Jahren bereits eine unterhaltsam-schaurige Revue deutscher Afrikafixierung gewesen.
Berlin hatte sich aus Prestigegründen um die Einrichtung von Dienstleistungen bemüht, etwa im Seminar für Orientalische Sprachen, in dem neben den Sprachen eine "kolonialkundliche" Ausbildung absolviert werden konnte für die Bedürfnisse der Kolonialverwaltung und -truppen, der kolonialen Handelshäuser oder der Missionen. Gerade für verschiedene Wissenschaften stellte die Kolonialzeit mit ihren spezifischen Herausforderungen und experimentellen Möglichkeiten eine wesentliche Durchgangsstation der Fachgeschichte dar. Besonders in der Geografie, der Medizin, der Anthropologie und der Biologie beziehungsweise Botanik sind diese Spuren gut nachweisbar. Sie werden anhand einiger Afrika-Forscher und Wissenschaftler wie Robert Koch oder Eugen Fischer dokumentiert, die man aus heutiger Sicht kaum noch mit Afrika in Verbindung bringt.
Die Beiträge lösen manches Erstaunen darüber aus, wie viele koloniale Elemente - bis zum notorischen "Negerkuss" - in unserem Alltagsleben noch präsent sind. Das ist analytisch oft nicht sehr tief gehend, aber vielleicht dem Zweck des Buches geschuldet. Viele Hinweise zeigen darüber hinaus, wie massiv der "koloniale Gedanke" in Deutschland hat beworben und durchgesetzt werden müssen. Sie belegen, dass der Höhepunkt der Popularität deutscher Kolonien paradoxerweise erst nach der kolonialen Realgeschichte erreicht wurde. An vielen Beispielen wird die Parallelität der Bemühungen von Kolonialrevisionisten erläutert, den "kolonialen Gedanken" in Deutschland nach 1918 langfristig lebendig zu erhalten - während andere längst mehr oder weniger hellsichtig das irreversible Ende des kolonialen Zeitalters hatten kommen sehen und sich längst beglückwünschten, mit den Folgen der Dekolonisation nicht weiter belastet zu sein.
Von akademischem Ballast befreit gibt es hier 55 knappe, manchmal sogar etwas abrupt endende Beiträge von ausgewiesenen Forschern der Materie. Die Illustrationen sind vielseitig, wenn auch nicht immer von bester Qualität. Am Rande werden zudem in kleinen Kolumnen wissenswerte Details, aber auch Arabesken mitgeteilt. So erfährt man beispielsweise, dass im "Afrikanischen Viertel" im Wedding die nach Carl Peters benannte Allee noch vor kurzem auf pragmatische Weise nach einem unbedeutenden Stadtverordneten namens Hans Peters "umbenannt" wurde.
Obwohl gerade in der jüngst mehrfach untersuchten "Mischehenfrage" unübersehbare Kontinuitätslinien gezogen werden, ist die gelegentliche Suggestion der geradlinigen Persistenz des deutschen Rassismus nicht immer gleich überzeugend. Das erinnert etwas an die Bücher, die 1984 aus Anlass der 100jährigen Wiederkehr des deutschen Kolonialabenteuers erschienen waren. Doch greift das Buch breiter aus und kann auch als lesbares Kompendium der jüngeren Kolonialforschungen dienen. Dies wird freilich im Einzelnen noch manches Unerforschte zu Tage fördern, einfach deshalb, weil die kulturgeschichtliche Erweiterung des Blicks für ihre Fragen nach Wahrnehmungsformen und Rückwirkungsprozesse in der Kolonialepisode reichhaltiges Material vorfindet. Das erweist der Band sehr anschaulich. Eine wirklich "runde" Geschichte wird über die deutsche Kolonialzeit aber erst geschrieben werden können, wenn - ohne apologetisch zu werden - neben den fatalen Auswirkungen auch die anregenden Effekte wieder in die Bilanz mit einbezogen werden, etwa der Anteil der Kolonialperiode an der Entprovinzialisierung Deutschlands, ihre ästhetischen und stilprägenden Impulse et cetera
Immerhin werden auch die starken Unsicherheiten deutlich, mit denen sich Deutsche und farbige "Neudeutsche" begegneten. Wurde in Werbung und Unterhaltung oft mit billigen Effekten des Exotismus spekuliert, so war die wechselseitige Beziehung gerade in der Kolonialmetropole dennoch keine ausschließlich "herrschaftliche". Jüngst ist für die britische Geschichte die starke Beeinflussung vieler Kolonisatoren durch "adelige" Lebensformen in den Kolonien bis hin zur offenen Kopie festgestellt worden. Ähnliches kann auch für die Deutschen festgestellt werden, wenn man sieht, welchen Eindruck etwa Douala-Prinzen in der deutschen Hauptstadt hinterließen. Parallel sollte bei dieser Spurensuche in die Frühzeit deutscher Weltaneignung der Umgang mit anderen "Fremden", etwa mit den Polen, gesehen werden. Denn erst diese beiden Erfahrungen brachten etwa das Staatsbürgerrecht von 1913 hervor, mit dem die Deutschen viele der kolonialen Probleme in das europäische Zentrum holten.
Dirk van Laak