Johannes Helmrath / Ulrich Muhlack / Gerrit Walther (Hgg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen: Wallstein 2002, 456 S., ISBN 978-3-89244-506-7, EUR 35,00
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Unter dem Titel "Diffusion des Humanismus" versammelt der hier anzuzeigende Sammelband "Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten". Gleich vorweggeschickt sei, dass es auf der Ebene der Einzelbeiträge fast nur positives zu berichten gibt: Etliche der Aufsätze bieten wichtige Analysen bisher ausgeblendeter Gebiete (Maissen), einige Beiträge sind prägnante Resümees jüngster Forschungsarbeiten (Busch, Müller, Saygin, Collard). Daneben stehen Artikel eher allgemein-informierender Art (vergleiche auch Muhlacks Einführungsartikel über die humanistische Historiograpie), die im Überblick vor allem die Verbreitung des Humanismus beziehungsweise der Renaissancekunst in Ostmitteleuropa nachzeichnen (Bredekamp, Pirozynski).
Eingerahmt werden die sechzehn Einzelbeiträge von zwei Texten der Herausgeber Helmrath und Walther, die programmatisch das Thema "Diffusion des Humanismus" entwerfen und thesenhaft resümieren. An sie wird sich eine über die Ebene der qualitätsvollen Einzelbeiträge hinausgehende Beurteilung des Bandes zu halten haben. Der von Helmrath explizierte Ausgangspunkt ist ebenso einfach wie einleuchtend: Wie kam es - aus der Zeit um 1600 rückblickend gesehen - zur gesamteuropäischen Ausbreitung jenes kulturellen Phänomens, das gemeinhin "Humanismus" genannt wird? (9f.). Ausdrücklich wird "Diffusion" somit als räumliche Kategorie verstanden. Gefragt wird danach, wann, wo, wie und warum "Humanismus" vom "Zentrum" Italien ausgehend die anderen, "peripheren" Regionen Europas erreichte. Nur am Rande angesprochen werden demgegenüber alternative Vorstellungen von "Diffusion des Humanismus", etwa die Frage nach der "Diffusion des Humanismus" aus den thematisch-disziplinären Kernbereichen in andere Felder literarisch-gelehrter Produktion oder die klassische Frage nach der "Diffusion des Humanismus" in institutioneller Hinsicht, vor allem also die Frage nach "Universitäten und Humanismus", ebenso wie auch soziale Dimensionen des Themas "Diffusion des Humanismus", also etwa das Thema der "gelehrten Räte", nur en passant behandelt wird.
Im Unterschied zu anderen Metaphern soll der Begriff "Diffusion" in Abgrenzung zu Konzepten wie "Rezeption" und "Export" und in Anlehnung an das Programm des "Kulturtransfers" (24-28) die Offenheit des Vorgangs betonen: Diffusionsprozesse seien in vielerlei Art möglich, intentional, unabsichtlich, als bewusstes Rezipieren wie als aktives Exportieren, als Leistung einzelner "Apostel" et cetera. In der ausdrücklichen Betonung des Nebeneinanders und der Vielfältigkeit der Weitergabeformen liegt ein entscheidender Zugewinn in konzeptueller Hinsicht, den der neue Begriff bringt. Sein Anliegen ist es, gerade die Summe und das Gesamtergebnis dieser vielfältigen und unterschiedlichen Prozesse zu bezeichnen.
Überblickt man die thematische Breite des Bandes, so muss man uneingeschränkt anerkennen, dass tatsächlich vielfältige Formen von "Diffusion" vorgestellt werden. Es gibt Studien zu klassischen Abhängigkeits- und Beeinflussungsvorgängen (Hirnstein über die Rolle Ermolao Barbaros für Beatus Rhenanus' Historiographie, 186-209) ebenso wie Arbeiten über politische Instrumentalisierungen von Humanisten (Saygen) wie auch zu vorbildhaften literarischen Modellen (Ulrich Muhlack über die "Germania illustrata" [142-158]; Reinhard Stauber über die Schedel'sche Weltchronik als Teil der "Germania illustrata" [159-185]; vergleiche auch die anregende Lesart von Flavio Biondos "Italia illustrata" durch Ottavio Clavuot [55-76]). Insofern hat man am Ende der Lektüre tatsächlich Beispiele für verschiedenste Diffusionswege und -modalitäten an der Hand.
In der Praxis der Durchführung überwiegt ein werk- und personenzentrierter Ansatz. Nicht in jeder Arbeit werden dabei die postulierten Ambivalenzen des Diffusionsvorgangs so plastisch deutlich wie in Johannes Helmraths zentralem Aufsatz zu Enea Silvio Piccolomini (99-141). Eindrücklich und in notwendiger Differenziertheit werden hier verschiedene Segmente seines Wirkens untersucht, in ihrer Bedeutung und Vorbildhaftigkeit für die deutschen Kollegen und Bekannten Enea Silvios gewichtet und am Ende zugleich noch eine kritische Auseinandersetzung mit der Selbststilisierung des großen Italieners im Abgleich mit den zuvor gewonnenen Einsichten geleistet. Ausgehend von eindrucksvollen Belegen für die zeitgenössische Anerkennung der Vorbildhaftigkeit Eneas wird untersucht, auf welchen Wegen und in welchen Bereichen diese Vorbildhaftigkeit zu Nachahmung anregte, das deutsche Umfeld zu prägen vermochte und wo sich Grenzen der Beeinflussung erkennen lassen. Ähnlich umsichtig geht auch der Beitrag von Franck Collard über Paulus Aemilius vor (377-397), in dem ebenfalls an einem konkreten Beispiel nach verschiedenen Kriterien für die Überprüfbarkeit tatsächlicher Beeinflussungsphänomene gesucht wird.
Aufs Ganze gesehen ist der vorliegende Band nicht zuletzt eine Sammlung von Studien über italienische Vorbilder - einzelne Personen, einzelne Werke, einzelne historiographische Modelle - in außeritalienischen Zusammenhängen (Havas / Kiss über Antonio Bonfini [281-307], Frank Rexroth über Polydore Vergil [415-435]). Das Wirken dieser Vorbilder, die von ihnen ausgehenden Anregungen und die erfolgenden Reaktionen werden in diversen Schattierungen vorgeführt. Die Frage freilich, was zur Transposition der Personen und Werke in die "fremden" Kontexte geführt hat, klingt allenfalls beiläufig an. In verschiedenen Beiträgen wird etwa die Vermutung geäußert, es habe sich bei den italienischen Humanisten im Ausland um Gelehrte aus der "zweiten Reihe" gehandelt, die in ihrer Heimat bereits keine Verwendung mehr gefunden hätten (Saygin, 398; Collard, 379; Walther, 442). Die Weckung humanistischer Bedürfnisse in weiteren Regionen Europas wäre so gesehen als zutiefst sozialgeschichtliches Phänomen, als Steigerung der Nachfrage durch eine kulturelle Elite zur Deckung des eigenen Unterhalts zu begreifen.
Entsprechend der an der geografischen Ausbreitung orientierten Betrachtungsweise durchzieht ein Thema viele Beiträge: die Rolle des italienischen Humanismus (oder sollte man sagen: des Humanismus der Italiener?) für die Konstitution "nationaler" Kulturen und "nationalen" Selbstbewusstseins. Insofern leistet der Band eine willkommene Ergänzung zu zahlreichen neueren Arbeiten, die sich diesem Thema zuwenden, teils, indem er (vergleiche Maissen über das bislang wenig untersuchte Schweizer Beispiel) weitere historisch-geografische Nationendiskurse untersucht, teils, indem er das Nebeneinander von stilistischer Bewunderung und nationalem Ressentiment gegenüber den italienischen Vorbildern als Movens außeritalienischer humanistischer Anstrengungen deutet (vergleiche Heribert Müller über den französischen Frühhumanismus [319-376]).
Mindestens einzelne Beiträge bieten Hinweise darauf, weshalb der Humanismus für die Zeitgenossen Evidenz erlangte und welche Funktionen er zu erfüllen hatte: In seiner synthetisierenden Schlussbemerkung über "Nation als Exportgut" etwa bringt Gerrit Walther die Popularität der nationalen, humanistischen Identitätsstiftungen assoziativ mit "der Entstehung des modernen europäischen Staatensystems" in Verbindung, das - als Reflex der "ganz Europa umspannenden Diplomatie" - einen "neuen Code internationaler symbolischer Repräsentation" erfordert habe (439). Aus der Sicht des rückblickenden Historikers scheinen eminent politische Momente dafür gesorgt zu haben, dass der Humanismus auch außerhalb Italiens eine Heimstatt fand. Konkret belegt wird die politische Indienstnahme des Humanismus vor allem von Susanne Saygin in ihrem Beitrag über Humphrey, Herzog von Gloucester (398-414) und von Bruno Figliuolo für die Historiographie in Neapel 1540-1550 (77-98).
Die Fruchtbarkeit des "Diffusionsbegriffs", so wie er sich aus den Beiträgen des Sammelbandes erkennen lässt, liegt nicht zuletzt darin, dass er neben dieser Perspektive auch die im Verbreitungsprozess selbst liegenden Antriebskräfte anspricht (zum Beispiel 10, 19f., 396, 441): Je bekannter und etablierter der Humanismus wurde, umso gewisser wurde seine Verbreitung, weil er immer weniger zu übergehen war. Der Humanismus konnte nicht ignoriert werden, nachdem ihn die Italiener einmal als wirksame Ausdrucksform etabliert und auch mit Blick auf das außeritalienische Europa akzentuiert hatten. Die schiere Existenz eines neuen hochwertigen kulturellen "Codes" (439f.), zumal bei seiner prononcierten Verwendung in Teilen Europas, erforderte früher oder später zwingend, dass man sich auch an anderen Orten damit auseinander setzte (439f.). Stilistische Raffinesse konnte auf diese Art zu einem wichtigen Gut werden. Wie und weshalb der Humanismus freilich in konkreten Umständen dann tatsächlich eingebürgert wurde und worin dann in diesen Situationen seine Überlegenheit über alternative Bildungsformen ("Humanismusferne bedeutet aber nicht Bildungsferne", 110) beziehungsweise seine spezielle Funktion lag, kann nur unter Einbeziehung der konkreten Umstände und Kontexte des Diffusionsvorgangs vor Ort, nicht allein aus ihm selbst heraus verstanden werden - das gilt auch für das Entstehungsland Italien (vergleiche dazu den sehr informativen Beitrag von Jörg W. Busch über die inneritalienischen Vorläufer der humanistischen Historiographie, 35-54). Indem im Sammelband die skizzierten Perspektiven angesprochen, verbunden und als "Diffusion" verbalisiert werden, liegt mit diesem Buch auf der konzeptionellen Ebene ein konzeptuell gewichtiger und zu weiteren Nachfragen anregender Band vor, der auf der Ebene der Einzelbeiträge zudem eine Fülle von hervorragenden Detailstudien bietet.
Markus Friedrich