Jan Mlynarik: Fortgesetzte Vertreibung. Vorgänge im tschechischen Grenzgebiet 1945-1953. Mit einem Vorwort von Otfried Pustejovsky, München: Herbig Verlag 2003, 480 S., 44 Tabellen, Dokumente, Karten, ISBN 978-3-7766-2291-1, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dies ist ein erschütterndes Buch; es handelt von Lüge, Gier und Hass, Raub und Mord und deren Verdrängung und Leugnung. Der Verfasser hat bereits 1977 unter dem Pseudonym "Danubius" das Thema der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und deren wirtschaftliche und vor allem moralische Folgen für das Land aufgegriffen; nunmehr legt er eine Studie vor, die die Vertreibung, Drangsalierung und Umsiedlung von ethnischen Tschechen aus dem kleinen Gebiet Weitra (Vitorazsko), zwischen dem böhmischen Wittingau und dem österreichischen Gmünd gelegen, dem Vergessen entreißt. Es handelt sich nur um ein kleines Gebiet von weniger als 120 km² Fläche und einer Einwohnerschaft von circa 10.000 Menschen, die auf kargen Böden ein armseliges Dasein fristeten. Seit 600 Jahren gehörte es zu Niederösterreich, war aber von Tschechen bewohnt, die sich ohne Ausbildung, ohne ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und oft als Analphabeten - wie es mehrfach heißt - dem Druck der "Germanisierung" entzogen hatten. 1919 forderte die Regierung in Prag das Gebiet für den neuen Staat und erhielt auch den größeren Teil, jedoch ohne die Stadt Gmünd. Um den ungeliebten Staat zu verlassen, entschieden sich viele Bewohner 1939 für die deutsche Volkszugehörigkeit, bezahlten dafür jedoch oft mit der Einberufung zum Wehrdienst. Ein Drittel der aus dieser Gruppe rekrutierten Soldaten kam im Zweiten Weltkrieg um.
Obwohl von der Nazi-Ideologie kaum etwas in die Region durchgedrungen war und die entsprechenden Organisationen bei dem Zusammenhalt der Bewohner untereinander kaum Erfolge errungen hatten, beschuldigten nach dem Kriege Zugezogene, Partisanen und Glücksritter die einheimische Bevölkerung als "Verräter". Am 24. Mai 1945 wurden in der kleinen Gemeinde Schwarzbach (Tušť) 14 Personen nach einer Verhandlung eines "Volksgerichtes" bestialisch gequält und anschließend erschossen. Aus allen Dörfern dieses Gebietes vertrieb dann die "Volksgarde" Ende Mai 1945 etwa die Hälfte der Einwohner nach Österreich, wo sie bei Verwandten oder im Wald Schutz fanden, ehe die meisten bis Ende des Jahres in ihre Heimat und die ausgeplünderten Anwesen zurückkehrten. Den Kampf um eine Rehabilitierung verloren sie, aber nicht nur das: Mit einer anderen Begründung, nämlich das Grenzgebiet vor Spionage und Agenten schützen zu müssen, gerieten sie erneut in die Mühlen der seit 1948 kommunistischen Behörden. Im Jahre 1952 wurde der Plan einer Aussiedlung der meisten Bewohner in innerböhmische Gebiete gefasst und im Frühjahr 1953 ausgeführt. Etwa 1500 Personen waren von dieser zweiten Vertreibung betroffen (322 f.) und warteten vergeblich auf die versprochene Entschädigung. Erst nach Ende der kommunistischen Herrschaft wurde wieder ein Versuch unternommen, dieses Unrecht aufzuklären und die Mörder von Schwarzbach vor Gericht zu bringen; aber alle Versuche, vor tschechischen Gerichten Recht zu erlangen, scheiterten. Die Opfer der Massaker erhielten schließlich 1993 im österreichischen Gmünd ein würdiges Grab und ein Denkmal (340).
"Die Durchsicht der Dokumente in den Archiven erschüttert selbst den Historiker angesichts von so viel Dummheit und Hass, menschlicher Kleinlichkeit und Argwohn, ja selbst Verbrechen, die sich hier manifestierten - nicht nur ein Jahr lang, nein: ein Jahrzehnt hindurch bis Mitte der 1950er-Jahre." (337 f.) Jan Mlynarik hat viele örtliche Archive benutzt, in denen Protokolle der "Volksgerichte", Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, Listen von angeblichen Deutschen oder "Nationalsozialisten", politisch "Unzuverlässigen" aufbewahrt werden, sowie Archivalien in den beteiligten Ministerien in Prag, die immer wieder mit der Angelegenheit befasst wurden. Die Frage, ob sich ein solcher Aufwand für einen Historiker angesichts der vergleichsweise geringen Opferzahl auch "lohne", stellt sich nicht, denn der Verfasser bettet diese Detailfrage immer wieder in den größeren Zusammenhang der Nachkriegsereignisse ein und arbeitet an diesem Beispiel den Verfall von Moral und Menschlichkeit heraus. Von tschechischem "Gestapismus" (89) ist dann die Rede, noch schlimmer von "zivilisatorischem Hyänismus" (193). Die "kleinen Leute" und ihr Schicksal stehen im Mittelpunkt, als Opfer oder auch als Täter. Viele Biografien führt Mlynarik für beide Gruppen an, manchmal zu viele, als dass der Leser den Überblick bewahren könnte, manche Wiederholung hätte vermieden werden können. Aber Kritik dieser Art erscheint kleinlich angesichts der Wucht der Schicksalsschläge, die die Menschen dieses kleinen Gebietes trafen, die hier - stellvertretend für viele andere als Konsequenz des Zweiten Weltkrieges - ihren Historiker gefunden haben, allerdings bisher nur in deutscher Übersetzung.
Anmerkung:
Zu dieser Publikation erschien eine Rezension von Adrian von Arburg in sehepunkte 4 (2004), Nr. 3; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/03/5437.html.
Manfred Alexander