Franz-Werner Kersting (Hg.): Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 46), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 293 S., ISBN 978-3-506-79619-6, EUR 38,00
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Am 20. und 21.9.2001 fand in Münster eine vom Westfälischen Institut für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippen veranstaltete Tagung "Psychiatriereform als Gesellschaftsreform" statt. Konzeptioneller Ausgangspunkt war die von Franz Werner Kersting bereits anderen Ortes publizierte Überlegung, dass die Reformprozesse in der Psychiatrie erst durch die gesellschaftlichen Reformbewegungen der 1968er-Jahre in Gang gekommen seien (4). Franz Werner Kersting hat die zu wissenschaftlichen Aufsätzen ausgearbeiteten Tagungsbeiträge nun in einem Sammelband herausgegeben. Jeder der vier Abschnitte wird mit einer kurzen Einführung der ursprünglichen Moderatoren begonnen. Im Zentrum der zusammengestellten Aufsätze steht die Frage, welche Bedeutung der Psychiatrie als Institution, dem gesellschaftlich-politischen Umfeld und den antiautoritären Programmen im reformpsychiatrischen Prozess zukommt (5). Und umgekehrt bekommt die Frage Bedeutung, inwiefern "die Psychiatriereform zur spezifischen 'Signatur' dieser inneren Transformationsperiode der Bundesrepublik" (6) gehört. Diese Fragen sind auf dem Hintergrund jenes Wandels zu reflektieren, den die Psychiatrie im Zuge der reformpsychiatrischen Bestrebungen von einer "verwahrenden, kustodialen hin zu einer therapeutischen, rehabilitativen, stärker gemeindenahen Psychiatrie" (4-5) genommen hat.
Welche Bedeutung die Hypothek der NS-Medizin für den Reformprozess der Nachkriegspsychiatrie hat, wird schwerpunktmäßig im ersten Abschnitt "Die Anstalt zwischen 'Euthanasie' und Reform" (15-80) diskutiert. "Die Anstaltspsychiatrie unter den Bedingungen der 'Zusammenbruchgesellschaft'" vertieft Heinz Faulstich (21-30), bevor Sabine Hanrath Strukturkrise und Reformbeginn der Anstaltspsychiatrie bis zu den 1960er-Jahren in einer ost-westdeutschen Perspektive vergleichend darstellt (31-61). Dabei greift Hanrath auf die Ergebnisse ihrer Dissertation zurück. [1] Schließlich arbeitet Franz-Werner Kersting in seinem beeindruckenden Aufsatz die Hypothek der NS-Medizinverbrechen als Reformimpuls heraus (63-80). Aus der von Kersting zu Beginn zitierten Rede des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Rudolf Amelunxen, die er am 6.11.1946 vor Studierenden und Professoren in Köln gehalten hat, sei der in seiner Klarheit bestechende Teilsatz hervorgehoben: "... Euthanasie [ist] für ein Kulturvolk Schande ..." (63). Amelunxens Rede ist beredtes Zeugnis einer schon für den Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren festzumachenden "kritische[n] Reform- und Vergangenheitsorientierung" (65).
Im zweiten Abschnitt "Psychiatrie-Enquête" (83-148) wird der Kernbereich reformpsychiatrischen Anspruches in den Mittelpunkt gestellt, der mit dem Einsetzen einer Enquête-Kommission unter der Leitung von Caspar Kulenkampff (1922-2002) durch den Bundestag im Jahr 1971 seinen institutionalisierten Anfang nahm. Zu Beginn ruft Jörg Schulz die Rodewischer Thesen in Erinnerung (87-99), die bereits 1963 ein Reformbestreben in der DDR-Psychiatrie belegen. Die Thesen waren das Produkt eines Internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation und wurden nicht zuletzt durch vor Ort vorgetragene "Strömungen aus Frankreich und den USA" (91) beeinflusst. Bemerkenswert ist, dass die Thesen 12 Jahre vor dem bundesrepublikanischen Enquête-Bericht stehen; und dennoch konnten sie keinen wesentlichen Einfluss auf die "Neuorganisierung der psychiatrischen Versorgung" (93) in der DDR nehmen. Die Gründe für diese Entwicklung hat Hanrath zu analysieren versucht und dabei festgestellt: "Die Stagnation des Reformvorhabens in der DDR und die partielle Umsetzung der Ideen in der Bundesrepublik in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren lassen sich hauptsächlich auf die unterschiedliche Verfasstheit von Staat und Gesellschaft zurückführen" (59). An Schulz anschließend, widmet sich Alexander Veltin den praktischen Reformansätzen in den 1960er-Jahren und stellt die therapeutische Gruppenarbeit im psychiatrischen Krankenhaus dar (101-112). Heinz Häfner gibt als Zeitzeuge und Beteiligter einen hochinteressanten Einblick in die Geschichte der Psychiatrie-Enquête und der Psychiatriereform in Deutschland (113-140). Der Reiz seines Beitrages liegt in der Ambivalenz von Quellenzeugnis und wissenschaftlichem Aufsatz. Abschließend unternimmt Volker Jakob den Versuch einer Bewertung, wenn er Psychiatrie und Reform im Spiegel zeitgenössischer Filme analysiert (141-148).
Dass "Psychiatriegeschichte [...] immer auch die Geschichte der Psychiatriekritik" (165) ist, zeigt Cornelia Brink am Beispiel des Sozialistischen Patientenkollektivs in Heidelberg (165-179). Ihr Beitrag steht im Mittelpunkt des dritten Abschnittes "Psychiatriereform und Demokratisierung im Zeichen von '68" (151-219) und schließt sich Manfred Bauers Ausführungen zum Mannheimer Kreis (155-163) an - einem 1970 gegründeten reformpsychiatrischen Arbeitskreis, über den er als Zeitzeuge berichten kann und aus dem die "Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie" hervorgegangen ist; wie Kreis und Gesellschaft "Bewegung in die Psychiatrische Szene" (161) brachten, zeigt Bauer in seinem Aufsatz. Brink widmet sich mit ihrem Beitrag der Kritik der Psychiatrie, wie diese in der Antipsychiatrie (Basaglia, Cooper, Laing, Szasz) ihren Ausdruck fand. Doch stellt sie eine ganz eigene und besondere Form radikaler Kritik in der Bundesrepublik vor und legt den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf den "gesellschaftlichen Ort dieser Kritik" (166). Während sich die Kritik der Antipsychiatrie-Bewegung auf die großen Anstalten fokussierte, standen hier "das Gesundheitswesen im Ganzen und dessen Personalisierung im Arzt-Patienten-Verhältnis" (170) im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Solche Kritik, die einen starken ideologischen Anspruch besaß, wurde den Psychiatern bald zu radikal. Brink zitiert in diesem Zusammenhang Asmus Finzen, einen der führenden Sozialpsychiater, der in den 1960er- und 1970er-Jahren gegen die Großanstalten anging und sich für eine gemeindenahe Psychiatrie einsetzte. Finzen beschrieb treffend das zugrunde liegende Spannungsverhältnis: "Antipsychiatrie und Sozialpsychiatrie sind wie Feuer und Wasser ... Ideologisch und politisch sind sie Feinde" (178). Wilfried Rudolff beschließt den Abschnitt, wenn er Umbrüche und Entwicklungen in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren im Spannungsfeld von Sozialstaat, Randgruppen und bundesrepublikanischer Gesellschaft darstellt (181-219).
Wie sich die Reformen im Alltag verwirklichen ließen, welche Schwierigkeiten es zu überwinden galt und welche Forderungen noch nicht oder bisher nur eingeschränkt umgesetzt werden konnten, haben die Aufsätze des vierten Abschnitts "Reformalltag und -analysen im interregionalen Vergleich" (223-286) zum Gegenstand. Wolfgang Pittrich stellt die "Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e.V." vor (227-258); einen Eindruck von der Bremer Psychiatrie zwischen 1945 und 1975 vermitteln Helmut Haselbeck und Gerda Engelbrecht (259-271). Am Beispiel Bayerns zeigt Hans-Ludwig Siemen (273-286) unter Präsentation statistischer Daten, wie die Ansprüche der Psychiatriereform in den bayerischen Heil- und Pflegeanstalten umgesetzt werden konnten. Als eine wesentliche Konsequenz der Reformpläne kann auch "die Verlegung der chronisch Kranken in andere Einrichtungen" (279) angesehen werden, damit sich die psychiatrischen Großkrankenhäuser auf die Akutversorgung konzentrieren konnten. Die chronisch Kranken wurden in Heime verlegt: "Dort waren die Lebensumstände ähnlich schlecht und manchmal schlechter, als in ihrer gewohnten Umgebung" (281). Siemen macht damit auch auf die negative Konsequenz im Rahmen der Reformbemühungen aufmerksam, dass die chronisch psychisch Kranken durch die Psychiatriereform zunehmend an den Rand gedrängt wurden. Konzeptionell wäre gerade in diesem vierten Abschnitt, wenn es um die Umsetzungen im Reformalltag geht, über den interregionalen Vergleich hinaus eine internationale, vor allem aber eine europäisch vergleichende Perspektive ertragreich gewesen. Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren und eines der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer beschließen den Band.
Franz-Werner Kersting hat einen beeindruckenden Band wertvoller Aufsätze zusammengestellt und damit einen wegweisenden historischen Forschungsbeitrag geleistet. Er ist zu beglückwünschen, dass er ein interdisziplinäres Vortrags- und dann Autorenteam an der Psychiatriegeschichte Interessierter gewinnen konnte: Die Psychiatriereform wird durch eine solche Herangehensweise in der Tat als Gesellschaftsreform verständlich.
Anmerkung:
[1] Vergleiche meine Besprechung von Sabine Hanrath: Zwischen 'Euthanasie' und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg: Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945-1964) (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 41). Paderborn, München / Wien / Zürich 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: < http://www.sehepunkte.de/2003/07/3131.html>
Florian Steger