Rezension über:

Gudrun Tscherpel: The Importance of Being Noble. Genealogie im Alltag des englischen Hochadels in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Historische Studien; Bd. 480), Husum: Matthiesen 2004, 336 S., ISBN 978-3-7868-1480-1, EUR 51,00
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Rezension von:
Andreas Pečar
Historisches Institut, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pečar: Rezension von: Gudrun Tscherpel: The Importance of Being Noble. Genealogie im Alltag des englischen Hochadels in Mittelalter und Früher Neuzeit, Husum: Matthiesen 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/6257.html


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Gudrun Tscherpel: The Importance of Being Noble

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Die vornehme Herkunft, durch einen makellosen Stammbaum nachgewiesen, war für den Adelsstand in Mittelalter und Früher Neuzeit eine seiner wichtigsten Quellen der Legitimation. Dies galt zunächst vor allem für regierende Könige und Landesherren, die unter Zuhilfenahme der Genealogie den herausragenden Status der eigenen Dynastie zu beweisen suchten. Aber auch den übrigen Adelsfamilien war die stete Sorge um den Nachweis der edlen Abkunft eigen. Gudrun Tscherpel hat es in ihrer Dissertation unternommen, die genealogischen Bemühungen einiger Familien des englischen Hochadels vorwiegend im Spätmittelalter zu untersuchen.

Grundlage ihrer Untersuchung sind Chroniken und weitere Textquellen vornehmlich des 14. und 15. Jahrhunderts, in denen sich das wachsende Interesse englischer Adelsfamilien an der Geschichte ihres Hauses widerspiegelt. Tscherpel macht darauf aufmerksam, dass das Interesse an der Genealogie sich in England - im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Entwicklungen - erst recht spät in schriftlichen Texten niedergeschlagen hat. Auch die Aussagen über den Ursprung und das Alter der Adelsfamilien selbst zeigen eine interessante Besonderheit. Es war keineswegs immer der Bezug auf trojanische Vorfahren, die zum Ursprung der eigenen Familie stilisiert wurden. Vielmehr führten sich die untersuchten Familien zumeist auf die Zeit der normannischen Eroberung zurück und erklärten einen der Gefährten Wilhelms des Eroberers zu ihren Vorfahren.

Zugleich lässt sich an den Genealogien nachvollziehen, wie sich die Familienidentität des englischen Adels im Laufe des Mittelalters zunehmend wandelte. Wurde die Bindung des Adels an das von ihm beherrschte Land unter anderem mit der Einführung der Primogenitur zunehmend gefestigt, so findet dies seinen Widerhall auch in den Genealogien der Zeit: die Verstorbenen der agnatischen Linie rückten immer stärker in den Mittelpunkt der genealogischen Literatur, während die kognatischen Verwandtschaftsbeziehungen in den Hintergrund rückten. Allerdings waren genealogische Konstruktionen Tscherpel zufolge nicht dazu geeignet, eigene Statusansprüche durchzusetzen. Vielmehr bestand ihre Funktion vor allem darin, den neuerlangten Status einer Adelsfamilie im Nachhinein zu legitimieren. Dies lag auch daran, dass es letztlich allein der König war, der den Aufstieg einer Familie in die Kreise des Hochadels ermöglichte. Hierüber entschied die Nähe zum Thron, nicht ein vermeintlich genealogisch nachweisbarer Anspruch auf Zugehörigkeit zum Hochadel.

Tscherpels Untersuchung leidet etwas darunter, dass sie sich ihrem eigentlichen Thema - der Funktion der Genealogie für den englischen Hochadel - erst nach mehreren Umwegen zuwendet. In den ersten drei Kapiteln finden sich hingegen mehrere umfangreiche Passagen, die den Untersuchungsgegenstand weit hinter sich lassen und sich allgemeineren Fragen der Mediävistik zuwenden: So wird zunächst die Genealogie ausgehend von ihren antiken Wurzeln allgemein in den Blick genommen. Anschließend widmet sich das Folgekapitel dem Adel als Kulturgemeinschaft, wobei insbesondere die Frage, ob es im Mittelalter bereits ein Nationalbewusstsein gegeben habe, großen Raum einnimmt. Und auch das Kapitel über "Politik und öffentliches Leben" wird mitunter von sehr allgemein gehaltenen Passagen zum Beispiel über Propaganda im Mittelalter unterbrochen.

Diese Themenfelder sind ohne Zweifel auch zur Interpretation der Funktion und Bedeutung von Genealogien für den Hochadel bedeutsam. Doch gelingt es Tscherpel nicht hinreichend, hier eine Verknüpfung herzustellen. Außerdem finden sich in diesen allgemein gehaltenen Passagen immer wieder Pauschalaussagen über "die Menschen im Mittelalter" (62) oder an anderer Stelle über "die Natur der mittelalterlichen Familie" (230), deren Wert zweifelhaft ist, die mitunter auch unfreiwillig komisch wirken: "So fällt auf, dass, als die Normannen nicht länger Skandinavier waren, sie ihre bedeutendsten normannischen Charakteristika annahmen" (68). In ihrer Untersuchung über nationale Identität im Mittelalter folgt Tscherpel ferner konsequent Autoren, die die Entstehung von Nationen in Europa sehr früh zu erkennen meinen. Waren aber im frühen Mittelalter "die Vorstellungen über Völker und Staaten den modernen Ideen über Nationalstaaten nicht unähnlich" (63), wie Tscherpel postuliert? Dies erscheint ebenso zweifelhaft wie der Nutzen solcher Aussagen für das eigentliche Thema ihrer Untersuchung fraglich. Wiederholt geraten die Genealogie und der englische Hochadel aus dem Blickfeld.

Die vielen Zeitsprünge in der Untersuchung von den Angelsachsen über die Normannen bis zum 100-jährigen Krieg und darüber hinaus machen es ebenfalls nicht leicht, der Argumentation zu folgen. Auch provozieren manche zeitliche Zuschreibungen Widerspruch: So gibt es beispielsweise die Trennlinie zwischen Peerage und Gentry keineswegs erst im 17. Jahrhundert (80), sondern bereits in der Zeit der Tudors. [1] Leider ist bereits die Zeitangabe im Titel eher ungenau, der eine Untersuchung über Spätmittelalter und Frühe Neuzeit verspricht. Denn die Frühe Neuzeit ist in Tscherpels Arbeit allenfalls marginal vertreten.

Es hätte der Untersuchung daher gut getan, wenn das wichtige Thema der Genealogie und ihrer Funktion für den englischen Hochadel von Beginn an im Mittelpunkt gestanden hätte. Hier gelingt es Tscherpel durchaus, interessante Ergebnisse zu erzielen, die auch für die weitergehende Beschäftigung mit dem Thema Genealogie als Teil der alteuropäischen Adelskultur von Nutzen sein werden.


Anmerkung:

[1] Hierzu klassisch: Lawrence Stone: An open elite? England 1540-1880, Oxford 1995 (zuerst 1984), 3-24 u.ö.; allgemein: Felicity Heal / Clive Holmes: The Gentry in England and Wales 1500-1700, Basingstoke 1994. Die klassische Definition der Eigenschaften eines "gentleman" stammt von Thomas Smith (1513-1577) und mithin bereits aus dem 16. Jahrhundert; vgl. hierzu Hans-Christoph Schröder: Der englische Adel, in: Armgard von Reden-Dohna / Ralph Melville (Hg.): Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860, Wiesbaden 1988, 21-88, hier 30.

Andreas Pečar