Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789-1799 (= Pariser Historische Studien; Bd. 62), München: Oldenbourg 2003, 398 S., ISBN 978-3-486-56684-0, EUR 49,80
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Diese Habilschrift aus der Fern-Universität Hagen beginnt mit einem überraschenden Befund, der Zusammenhang von "Revolution, Krieg und militärisch organisierter Gewalt in den Jahren 1789 bis 1799" sei bislang in der Historiografie vernachlässigt worden (9). Überraschend ist dieser Befund schon mit Blick auf die Anmerkungen auf der ersten Seite der Studie, die sowohl auf die inzwischen klassisch gewordenen Arbeiten von Jacques Godechot als auch auf die von Jean-Paul Bertaud und Alan Forrest hinweisen. Sie haben das Thema in den letzten 20 Jahren immer wieder neu beleuchtet und dabei den Trend zur Mentalitäts- und Kulturgeschichte mitbestimmt wie auch die Abkehr von einer allein auf Paris zentrierten Sicht befördert. Nimmt man noch die eher diplomatiegeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen von T. C. W. Blanning hinzu, der ebenfalls ausführlich die Kriegsdynamik und die internationalen Beziehungen erörtert hat, dann fühlte sich der Leser bislang nicht unbedingt unterversorgt. Ganz abgesehen davon, dass die Frage nach den Gründen für den Kriegseintritt in keiner Gesamtdarstellung, zehnbändig oder im schmalen Paperback, ausgelassen wird. Eine nähere Darstellung der Lücke, die zu schließen ist, sucht man in der Einleitung leider vergeblich. Nach Kruse handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine politische Diskursanalyse, die methodisch zwischen den Bemühungen von François Furet und Jacques Guilhaumou um eine Erschließung des Textkorpus der Revolutionsjahre angesiedelt ist. Dies bestimmt auch die Quellenauswahl: nach einem kurzen Blick in die Serien AF III und AF II der Archives Nationales und in die Sammlung zur Militärgeschichte in Vincennes konzentriert sich der Verfasser auf Zeitungen und Broschüren sowie den Fundus der Archives Parlementaires. Daraus entsteht ein durchaus beeindruckendes Panorama an zeitgenössischen Stimmen. Wie aus dieser Collage von Zitaten aber im Einzelnen der "Diskurs der Revolutionäre" ermittelt wird, bleibt undeutlich.
Aus den beiden Zäsuren des Kriegsausbruchs 1792 und des Sturzes der Robespierristen 1794 ergibt sich die Dreiteilung der Arbeit. Im ersten Abschnitt setzt sich der Verfasser mit der These auseinander, die Französische Revolution hätte von Anfang an zum Krieg und zur nationalistischen Stilisierung von militärischen Helden tendiert. Statt sich - mit Furet - auf die Erörterung von "Prinzipien" der Revolution einzulassen, aus denen sich das Handeln der Akteure quasi zwangsläufig ergeben habe, rekonstruiert Kruse den Gang der Ereignisse und zeigt in dieser dichten Beschreibung, dass es den Wortführern der einzelnen politischen Lager um Verschiedenes ging, aber nicht in erster Linie um Krieg und Revolutionsexport. Ganz im Gegenteil standen zunächst innenpolitische Reformnotwendigkeiten und Konflikte im Vordergrund. Auch aus der Mobilisierung der Volksbewegung sei der Krieg nicht herleitbar, sondern erst aus der Situation des Jahres 1792 (mit der Krise von Varennes, der undurchsichtigen Rolle Ludwig XVI. und dem bekannt gewordenen Verrat der Hoffraktion als Vorspiel).
Der Verfasser geht auch noch einmal der Überlegung nach, inwiefern die Konfrontation mit dem Militärapparat des Ancien Régime eine wachsende Bedeutung des Militärischen für die Revolutionäre mit sich gebracht habe. Hier entfaltet das Verfahren, reichlich aus den Quellen zu zitieren, seine unleugbaren Stärken: die Darstellung ist farbig und gibt einen Eindruck vom täglichen Lernprozess der Protagonisten. Es schließen sich Passagen über Heeresreform und die Gründung der Nationalgarden an, und danach folgt die Betrachtung der Kriegsrhetorik und ihrer innenpolitischen Relevanz für die Konkurrenz der Girondins und Jakobiner um die Meinungsführerschaft, während im Hintergrund eine Erzählung der außenpolitischen Lage von der belgischen Revolution an mitläuft.
Es ist hier nicht der Raum, um die folgenden Abschnitte Revue passieren zu lassen - sie folgen im Wesentlichen dem konventionellen Rhythmus der älteren Revolutionshistoriografie - vom Bürgerkrieg im Frühjahr 1793 bis zu den napoleonischen Expansionsfeldzügen der späten 1790er-Jahre und endlich dem 18 Brumaire. Die Provinz ist in dieser Erzählung nur selten Schauplatz, entschieden wird beinahe durchweg in Paris. Und zwar mit Worten, denn der Verfasser befasst sich mit dem eigentlichen Krieg, mit den Strategien der Generäle für die Feldzüge, mit den Aushebungen oder der Versorgung der Armeen, mit der Moral der Truppen oder der Präzision ihrer Tötungswerkzeuge erstaunlich wenig.
Irgendwie blieb auch nach dem Sturz der Jakobiner "der Krieg selbst [...] weiterhin ein Wesenselement der Revolution, ebenso wie die Revolution weiterhin konstitutiv blieb für das Verständnis und für die Konzeption des Krieges" (270). Was das genau bedeutet, hat sich mir aus den Darlegungen des Verfassers allerdings nicht erschlossen. So schwankt denn auch am Ende der Autor bei der Beantwortung seiner Hauptfrage, ob die Französische Revolution den modernen Militarismus hervorgebracht habe oder nicht. Eine gewisse Unschärfe des Militarismusbegriffs konzediert (nicht jede öffentliche Betonung des Militärischen lässt sich wohl schon als Herrschaft des Militarismus deuten), geht Kruse davon aus, dass Militarismus die weitgehende Verselbstständigung des Militärs gegenüber der zivilen Politik meint.
Dies sieht der Autor zwar vorbereitet in der Aufwertung des Militärischen bis 1794, aber verwirklicht erst in den Jahren des Aufstiegs Napoleons. Indem er die Phase des Direktoriums und das nachfolgende Kaiserreich in die Genealogie des modernen Militarismus einreiht (neben den Wilhelminischen und einen japanischen Militarismus am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich gerade den Überhängen "feudaler" Strukturelemente verdankten), will er zeigen, dass die bürgerliche Gesellschaft auch dort, wo sie radikal-revolutionären Ursprungs ist, Formen des Militarismus hervorbringt (372). Moderne Kriegsideologie und der Entwurf eines Weltanschauungskrieges, die Tendenz zum totalen Krieg, der auch die Zivilbevölkerung nicht verschone und sich mit der Terreur verbinde, sowie der politische Gestaltungsanspruch des Militärs gegenüber der Gesellschaft zeichneten diesen Militarismus gegenüber der parallelen Variante im friderizianischen Preußen in besonderer Weise aus.
Die Widersprüche zwischen den apodiktischen Urteilen in dieser Schlusspassage und der detailreichen Schilderung des Revolutionsverlaufs in den vorangegangenen Kapiteln sind zahlreich. Neigte der Verfasser zunächst eher der "thèse des circonstances" zu, bei der Krieg und Bürgerkrieg Ergebnis zahlreicher ineinander greifender Faktoren, aber niemandes klare Intention waren, so folgt nun aus der permanenten Revolution der permanente Krieg, weil Bonaparte den Schwerpunkt "im komplexen Beziehungsverhältnis zwischen der Revolution und ihrem [sic!] Krieg noch ein Stück weiter auf die Seite des Krieges zu verlagern" verstand (376). So bleibt der Leser am Ende etwas verwirrt zurück. Er würde sich wohl leichter in Kruses Buch zurechtfinden, wenn der Autor nicht verschiedene Versatzstücke aus der Literatur aufgegriffen und sie mit zeitgenössischen Textpassagen zu einer seltsamen Melange verrührt hätte, sondern stattdessen seine Überlegungen deutlich gemacht und den Auffassungen anderer Historiker nachvollziehbar gegenübergestellt hätte, um die Plausibilität seiner Thesen mit empirischem Material zu verdeutlichen.
Matthias Middell