Wolfgang Kruse: Der Erste Weltkrieg (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, VI + 138 S., ISBN 978-3-534-15446-3, EUR 14,90
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Spätestens seit der Fischer-Kontroverse in den 1960er Jahren um die Kriegsschuldfrage 1914 gehört der Erste Weltkrieg auch in der Bundesrepublik Deutschland zu den großen, um nicht zu sagen klassischen Forschungsfeldern der Geschichtswissenschaft. Die internationale Forschung auf diesem Gebiet ist inzwischen in hohem Maße ausdifferenziert und spezialisiert. Neueinsteigern ins Thema fällt es oft schwer, sich im übergroßen Angebot an einschlägiger Fachliteratur zu orientieren.
Um sich einen ersten Überblick über die Geschichte des Ersten Weltkrieges und den aktuellen Forschungsstand zu verschaffen, empfiehlt sich die Lektüre von Handbüchern. Wolfgang Kruse, Professor für Geschichte an der Fernuniversität in Hagen und Spezialist für die Geschichte des Ersten Weltkrieges, hat jüngst in der ambitionierten »Geschichte kompakt«-Reihe der Darmstädter Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ein ansprechendes Einführungswerk in die Geschichte des Ersten Weltkriegs vorgelegt.
Kruses Band hebt sich hierbei von vergleichbaren Überblickswerken durch einen dezidiert kulturhistorischen Zugang zum Thema ab, der politik-, sozial- und mentalitätshistorische Ansätze integriert. Kruse interpretiert den Ersten Weltkrieg als Höhepunkt der Zivilisationskrise der nach "politischer Demokratisierung und sozialer Emanzipation" strebenden europäischen Moderne des 19. Jahrhunderts (1). Die europäische Moderne sei keineswegs nur von Fortschrittsoptimismus geprägt gewesen. Sie habe auch Widersprüche und Zerstörungspotentiale in sich getragen, die den erreichten Fortschritt zunichte zu machen drohten. Der Erste Weltkrieg wird in diesem Zusammenhang schon von Zeitgenossen nicht nur als Zerstörungswerk zur Überwindung der alten Ordnung verstanden, sondern auch als revolutionäres und schöpferisches Ereignis wahrgenommen, das je nach weltanschaulicher Überzeugung zu umfassender bürgerlicher oder sozialistischer Demokratisierung beziehungsweise zu reaktionär-autoritären Herrschafts- und Gesellschaftsmodellen führen könne (2). Diese Ambivalenz dient Kruse als Bezugsrahmen und Spannungsbogen seiner facettenreichen Darstellung.
Kenntnisreich behandelt Kruse in den sieben Kapiteln seines Buches Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf politischer, gesellschaftlicher, kultureller und militärischer beziehungsweise soldatischer Ebene aus einer bewusst gewählten europazentristischen Perspektive. Dieser Ansatz trägt der Entwicklung des Krieges Rechnung, der überwiegend auf europäischen Schauplätzen in West- und Osteuropa stattfand. Das Buch beginnt mit einer Erörterung der Ursachen, die im August 1914 zum Kriegsausbruch führten. Kruse arbeitet hierfür einen Ursachenkomplex heraus und macht in erster Linie den Imperialismus der europäischen Großmächte besonders auf dem Balkan sowie die aggressive deutsche Außenpolitik in der Ära der »Wilhelminischen Weltpolitik« verantwortlich (6).
Des Weiteren thematisiert Kruse im zweiten Kapitel die Neuorientierung in der deutschen Innenpolitik zu Kriegsbeginn. Mit dem von Wilhelm II. verkündeten »Burgfrieden« sollte die Suche nach Antworten auf die drängende soziale Frage auf die Zeit nach dem Ende des Krieges vertagt und die gesamte Bevölkerung hinter die Kriegspolitik des Kaiserreichs gesammelt werden. Ausführlich beschreibt Kruse die Stimmung in der deutschen Bevölkerung und widerlegt die These, einer allgemeinen Kriegsbegeisterung oder gar Kriegseuphorie und zeichnet ein deutlich differenzierteres Bild von der Stimmungslage in Deutschland (17ff.). Am Ende des Kapitels skizziert Kruse die militärischen Ereignisse der ersten Kriegsmonate und hier besonders den Übergang vom Bewegungs- in den Stellungskrieg an der Westfront.
Im dritten Kapitel widmet sich der Autor der Politik des Krieges. Kruse erhellt die innen- und außenpolitische Entwicklung der am Krieg beteiligten Staaten. Einen Schwerpunkt bildet die Darstellung der Kriegszielpolitik und der politischen Kriegsstrategien (28 ff.). Die deutsche Wirtschaftspolitik im Krieg und die Spaltung der Arbeiterbewegung aufgrund der sozialdemokratischen Kriegspolitik sind weitere Themen. Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Verlauf des Krieges ab Oktober 1914 und den militärischen Strategien sowie der Wahrnehmung des Erlebten durch die Soldaten. Ausführlich berichtet Kruse in diesem Zusammenhang über Formen soldatischen Protestes und Verweigerungshaltung gegen ihren weiteren Kriegseinsatz (70 ff.).
Mit zentralen Fragen der Kriegsideologie ("Der Geist von 1914", "Aufruf der 93 an die Kulturwelt", "Die Ideen von 1914"), der Kriegspropaganda im In- und Ausland (84 ff.), Zivilisationskrise, Massenkultur und moderner Kunst befasst sich Kruse im die "Kultur des Krieges" betitelten fünften Kapitel seiner Darstellung. Mit den Problemen der Rückwirkungen des Krieges auf die Gesellschaft setzt sich der Verfasser im weiteren Verlauf seiner Studie auseinander. Kruse beschreibt die zunehmende Verelendung weiter Teile der Bevölkerung in den Krieg führenden Staaten sowie die Verfestigung von Klassengegensätzen und die dadurch hervorgerufenen sozialen und politischen Proteste (114 ff.), die schließlich im Oktober und November 1918 das Entstehen revolutionären Bewegungen u. a. in Deutschland, Österreich und Ungarn begünstigte. Der militärische und politische Zusammenbruch der Mittelmächte ist Untersuchungsgegenstand im abschließenden siebten Kapitel. Der Autor thematisiert ebenso den demokratischen Aufbruch in jenen Ländern und informiert über die schwierige Ausgangssituation der entstandenen Republiken aufgrund der Kriegsniederlage und der Erfüllung des Versailler Vertrag (126 ff.).
Kruses Werk besticht durch große Sachkenntnis und souveräne Beherrschung des komplexen Stoffes sowie durch eine leicht verständliche, konzise Darstellungsweise. Kruse ist ein umfassender Überblick über die Geschichte des Ersten Weltkrieges auf dem aktuellen Stand der Forschung gelungen, der von Neueinsteigern und Fachhistorikern mit Gewinn gelesen werden kann. Wie alle Werke in der »Geschichte Kompakt«-Reihe ist der Band benutzerfreundlich gestaltet. Graphisch hervorgehobene Quelleneinschübe und Begriffserklärungen entsprechen modernen Rezeptionsgewohnheiten und erleichtern dem Leser die Orientierung im Text.
Kritisch ist anzumerken, dass Kruse nicht auch die außereuropäischen Kriegsschauplätze näher in den Blick nimmt. Sein europazentristischer Zugang ist begründet, die Bedeutung der Ereignisse zum Beispiel an der Orientfront für den Ausgang des Krieges oder der Kriegsverlauf in den afrikanischen Kolonien bleiben aber unberücksichtigt. Insofern erhebt Kruse für seine Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Salvador Oberhaus