Karsten Petersen: "Ich höre den Ruf nach Freiheit". Wilhelm Emmanuel von Ketteler und die Freiheitsforderungen seiner Zeit. Eine Studie zum Verhältnis von konservativem Katholizismus und Moderne (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 105), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005, 404 S., ISBN 978-3-506-72872-2, EUR 49,90
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Zu Recht gilt der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877) als eine der prägenden Persönlichkeiten der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts. Als Rechtsreferendar ausgebildet, wurde er 1844 zum Priester geweiht und bereits 1850 Bischof von Mainz. Sein politisches Engagement begann er als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung. Über 20 Jahre später gehörte er auch dem ersten deutschen Reichstag an. Bekannt wurde Ketteler als wichtiger Sensibilisierer für die soziale Frage und als einer der Wortführer der Minoritätsbischöfe auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, für die die Definition des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes inopportun schien. Die philosophisch-theologische Grundlage des kirchenpolitischen Wirkens des Mainzer Bischofs lag in seiner konservativen Prägung. Diese wird in der vorliegenden Arbeit, einer kirchengeschichtlichen Dissertation der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Kiel, erhellt und in der diachronen Umsetzung im politischen und kirchlichen Handeln vorgestellt.
Ketteler war Theologe und konservativer Denker. Mit diesen Qualifizierungen sind die beiden Richtungen angegeben, mit denen sich das politische Handeln Kettelers verstehen lässt. Grundlegend bleibt, so Petersen, Kettelers Ekklesiologie aus den Schriften der Tübinger Schule. Die Kirche als "Erlösungsanstalt" ist eine universale Größe, um der Einheit willen geordnet durch Papst und Bischöfe. Wenngleich Ketteler konziliare Strukturen bevorzugt, steht er doch fest hinter der Primatsstellung des Papstes als Teil der übernatürlichen Herkunft der Kirche. Für Ketteler ergibt sich daraus eine geschichtstheologisch motivierte Zweiteilung der Welt in einen inner- und außerkirchlichen Bereich. Aufgabe der Kirche sei es, Lebensbedingungen für Christen zu ermöglichen und auf politische Verbesserungen hinzuwirken. Die Bischöfe müssten ihre Rechte notfalls von der Politik einfordern, der Staat hingegen dürfe sich nicht in die Freiheit der Kirche einmischen.
Als zweiten Hintergrund der politischen Philosophie Kettelers untersucht Petersen dessen Konservatismus. Neben der Bezugnahme auf Thomas von Aquin kommt hier Kettelers Orientierung am Münchener Görreskreis am stärksten zum Vorschein. Sein Ziel ist die Schaffung eines christlichen Staates, der den Gefahren der Moderne entgeht und weder dem Absolutismus noch dem Liberalismus oder dem Sozialismus erliegt. Die aus dem Christentum und dem Konservatismus entnommenen Denkkategorien untersucht Petersen in Kettelers politischem Handeln. Letztlich geht es ihm um die Freiheit der Kirche. Sie verfolgt er mit realpolitischem Pragmatismus. Vier Phasen der politischen Einflussnahme Kettelers lassen sich für Petersen unterscheiden. Im Revolutionsjahr 1848 vertritt Ketteler als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung die Forderungen von Einheit und Freiheit. Seine Position differenziert sich jedoch in der Grundrechtsdebatte. Die Debatte über die Kirchen- und Schulartikel der Verfassung machten deutlich, dass Kettelers korporativer Freiheitsbegriff in der Paulskirche nicht durchzusetzen war.
Die Phase der politischen Reaktion in den 1850er-Jahren begleitete Ketteler als Bischof von Mainz. Seine Forderungen gingen nun auf Gewährung der der Kirche zustehenden Rechte. Von allgemeinen Grundrechtsdiskussionen wandte sich Ketteler konkreten Erwartungen an den Staat zu. Streitpunkte waren die Wiedererrichtung des Mainzer Priesterseminars als theologischer Lehranstalt sowie das Staatskirchenrecht im Großherzogtum Hessen und den Ländern der Oberrheinischen Kirchenprovinz überhaupt. Auf die Freiheit der Kirche kam Ketteler ab 1859 wieder zurück. Kirche und Moderne schlössen sich aus; diese liberale Position schien sich durch den Syllabus Pius' IX. zu bestätigen. Ketteler argumentierte damit, "die Leitbegriffe der Gegner - Gewissens- und Religionsfreiheit, Toleranz und Parität - in seinem Sinne umzudeuten, um so die praktische Kompatibilität der katholischen Kirche zur Moderne darzustellen" (298). Die Abwehr integralistischer Deutungen der päpstlichen Verurteilungen prädestinierte Ketteler für seine Rolle auf dem Konzil. Petersen lässt freilich, dabei dem Gesamtduktus seiner Überlegungen folgend, diese innerkirchlichen Kontroversen unberührt.
Die letzte Lebens- und Wirkphase Kettelers drehte sich um die Freiheit der Katholiken im Deutschen Kaiserreich. Als Abgeordneter im ersten Reichstag selbst an den Debatten beteiligt, denunzierte er in den Jahren des Kulturkampfs einen bloß individuellen Begriff von Freiheit und setzte sein korporatives Verständnis entgegen. Petersen resümiert die Stellungnahmen Kettelers zum Kulturkampf, vorgetragen mit "Märtyrerpathos" (366), und kommt zum Schluss, der Mainzer Bischof wäre eher bereit gewesen, einer völligen Trennung von Staat und Kirche zuzustimmen als den Verlust der kirchlichen Integrität hinzunehmen.
Über Ketteler wurde schon viel geschrieben. Was bringt die vorliegende Arbeit Neues? Zum einen kann sie sich auf die 2001 abgeschlossene Edition der Werke Kettelers beziehen. Mit diesem fertigen Editionsprojekt liegt für die Forschung eine zuverlässige Quellengrundlage vor. Zum anderen geht Petersen in der zeitlichen Erstreckung seines Untersuchungsgegenstands über die 1971 erschienene, in der gleichen Reihe veröffentlichte Arbeit von Adolf M. Birke hinaus, indem er die gesamte Lebenszeit Kettelers berücksichtigt. Auf diese Weise kommt die innere Konsistenz der Argumentation Kettelers aus der katholischen Theologie und dem konservativen Denken seiner Zeit gut zur Darstellung. Nicht zuletzt bezieht die Studie ihren Reiz aus der Tatsache, dass sie von einem evangelischen Kirchenhistoriker geschrieben wurde. Vielleicht stehen sich, und das mag vierzig Jahre nach der Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils und auf dem Hintergrund interkultureller Spannungen zwischen den Weltreligionen tröstend und erschreckend zugleich sein, dezidiert religiös argumentierende Denker aufs Ganze gesehen näher in ihrer Argumentation als sie es ihren jeweiligen nicht religiös oder areligiös handelnden Glaubensgenossen sind. Petersens Studie ist in diesem Sinn sehr aktuell.
Joachim Schmiedl