Bernhard Schneider (Hg.): Konfessionelle Armutsdiskurse und Armenfürsorgepraktiken im langen 19. Jahrhundert (= Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart; Bd. 15), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 333 S., ISBN 978-3-631-60199-0, EUR 54,80
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Aus dem äußerst produktiven SFB 600, der sich an der Universität Trier mit "Fremdheit und Armut" beschäftigt, liegt die Dokumentation einer Tagung vor, die Armut und Konfession im 19. Jahrhundert zum Thema hatte. In seiner ausführlichen Einleitung situiert Bernhard Schneider, Kirchenhistoriker und Leiter des Teilprojekts B 7 "Armenfürsorge und katholische Identität", in den Diskurszusammenhang über Armut und Armutswesen sowie das Zentralthema des SFB, nämlich die Frage nach Inklusion und Exklusion. Der Diskurs über die Armen, so Schneider, stand im 19. Jahrhundert im Kontext der Identitätskonstruktion der Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Funktion war, "die Anschlussfähigkeit der Kirche an die sich wandelnde Gesellschaft und ihre Nützlichkeit zu erweisen" (41). In diesem Kontext stehen die Beiträge des Sammelbandes, indem sie einerseits Diskurse über Armut nachzeichnen, andererseits den Beitrag karitativer Orden und Vereine für die Praxis der Armenfürsorge herausarbeiten. Das geschieht im interkonfessionellen Zugriff unter Beteiligung von Geschichte, Kultur- und Literaturwissenschaft.
Die ersten fünf Beiträge resümieren den Armutsdiskurs an regional und zeitlich versetzten Beispielen. Die Archivarin Sabine Veits-Falk konstatiert für Salzburg die Unterscheidung zwischen Armen und Bettlern sowie in einer ersten Phase um Mitgefühl und Nächstenliebe, die nach dem Übergang an Österreich von politischen Maßnahmen überlagert wurde. In Hirtenschreiben deutscher Bischöfe des 19. Jahrhunderts findet Michaela Maurer die Deutung von Armut als einer von Gott zugelassenen und gesellschaftlich bleibenden Realität. Fürsorge für die Armen ist deshalb ein Akt der Nächstenliebe zur Besserung der Sittlichkeit und Frömmigkeit der Gläubigen. Ein herausragendes Beispiel sozialen Engagements stellt der Vinzenzverein dar, dessen Rezeption in deutschen katholischen Zeitungen und Zeitschriften Ingmar Franz untersucht. Sein Ergebnis: "Kirchliche Armenfürsorge ist Teil der Rechristianisierung der Gesellschaft und damit ihrer Erneuerung von innen heraus." (325) Das protestantische Beispiel untersucht Stephan Sturm aus systemtheoretischer Perspektive. Die "Innere Mission" konzentrierte sich dabei auf ihre spezifisch religiöse Aufgabe. Sturm bewertet den Verzicht auf Sozialpolitik als eine Chance zur Ergänzung an den Stellen, an denen Politik an ihre Grenzen kommt. Abgeschlossen wird der Diskursteil des Sammelbandes mit einem Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns, die am Beispiel einer Novelle von Wilhelm Hauff das Armutsbild des 19. Jahrhunderts zwischen Mitleid, Sentimentalität und Entschleierung sozialer Realität analysiert.
Einen guten Überblick über protestantische Konzepte des 18. und 19. Jahrhunderts zur Armut bietet Thomas K. Kuhn: aus dem Pietismus August Hermann Francke und aus der südwestdeutschen Erweckungsbewegung Christian Heinrich Zeller. Dabei ging es im volksaufklärerischen Sinn um Modelle, Selbsthilfe zu ermöglichen. Im katholischen Milieu führte die Konfrontation mit Armen zur Entdeckung der Haltung der Barmherzigkeit als Berufung und Auslöser zur Gründung entsprechender religiöser Gemeinschaft. Maike Wagener-Esser beschreibt für einige Orte im Bistum Münster die Entstehung und Entwicklung eines karitativen Sozialnetzwerks, zu dessen Initiatoren lokale Honoratioren und Familien gehörten und dessen Aufgaben von Ordensgemeinschaften durchgeführt wurden. Die Zentralisierung erfolgte erst Jahrzehnte später mit der Gründung des Deutschen Caritasverbandes.
Die Rolle der Vereine wird in den folgenden zwei Beiträgen herausgearbeitet. Michaela Sohn-Kronthaler und Christian Blinzer behandeln die direkte Hilfe, die katholische Frauenvereine in Wien und Graz auf die durch die Industrialisierung bedingten Notlagen gaben. Durch Einrichtungen und Betreuungsstätten sollte nicht nur materielle Armut gelindert, sondern auch eine geordnete Lebensführung ermöglicht werden. Für Deutschland hebt Ewald Frie die Vinzenzvereine als Antwort auf Industrialisierung und Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus. Zur Organisation katholischer, sozial engagierter Männer hatten diese Vereine bis 1900 eine Monopolstellung, der für Frauen die gleiche Entwicklung in den Elisabethvereinen korrespondierte. Mit der Verlagerung der Beurteilung von Armut von der moralischen auf die ökonomische Ebene, der Übernahme von Verantwortung durch die Kommunen und der geringeren Plausibilität der Armenfürsorge für das katholische Bürgertum schwand die Anziehungskraft der Vinzenzvereine nach 1900.
Der Schlussbeitrag von Eva-Maria Lerche verbindet den Diskurs des 19. Jahrhunderts mit dem frühneuzeitlichen Konzept der Sozialdisziplinierung. Am Beispiel des Westfälischen Landarmen- und Arbeitshaus Benninghausen wird die Arbeitserziehung als Methode zur Disziplinierung von Landarmen dargestellt. Die Abwehr gegen geforderte religiöse Betätigung führte auch zu einer schwachen Position der Geistlichen.
Aus den Beiträgen ergibt sich die Notwendigkeit, für den Umgang mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts den Blick auf die Kirchen nicht zu vernachlässigen. Religion als System funktionierte auch in einer industrialisierten und säkularisierten Gesellschaft noch sehr lange. Die starke Position der Kirchen als Arbeitgeber im Sozialbereich wurde im 19. Jahrhundert grundgelegt. Das Interesse an gesetzlichen Regelungen trat dabei freilich hinter der konkreten Einzelhilfe zurück. Dennoch lohnt es sich, auf die aufgebauten kirchlichen Strukturen zu blicken und neben ihrer Effektivität auch deren personale Dimension zu beachten. Konfessionelle Armenfürsorge hatte eben, und das zeigen die Beiträge zur Genüge, nicht nur das Ziel einer Verbesserung der Situation, sondern immer auch der Besserung des Menschen. Insofern kann sich die Spannung zwischen Inklusion und Exklusion nicht nur auf theologische und politische Diskurse und Strukturen beziehen, sondern muss den ganzen Menschen in seiner leiblichen und geistig-geistlichen Dimension berücksichtigen. Hier lässt sich vom 19. Jahrhundert für heute manches neu lernen.
Joachim Schmiedl