Karl Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 190), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2005, 2 Bde., XI + 1246 S., ISBN 978-3-465-03428-5, EUR 139,00
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Karl Härters Habilitationsschrift - sie wurde im WS 2001 / 2002 an der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Darmstadt angenommen - setzt keineswegs nur in quantitativer Hinsicht Maßstäbe. In zwei Teilen, zehn Kapiteln und auf über 1200 Seiten werden zwei jüngere Forschungsdisziplinen, wenngleich mittlerweile durchaus etablierte Wissensfelder, zu einer territorialen Synthese vereint: Policey- und historische Kriminalitätsforschung.
Der Mainzer Kurstaat bildete die Basis, wobei grenzüberschreitende Vergleiche mit anderen Regionen angesprochen und belegt, aber auch die Besonderheiten eines geistlichen Kur- und Reichsstandes keineswegs ausgeblendet wurden. In Kurmainz steckte in der frühen Neuzeit ein beachtliches Entwicklungspotential, das bei den zahllosen Interaktions- und Kommunikationsvorgängen zwischen Obrigkeit und Untertanen mit Blick auf die Fragestellung vom Autor voll ausgeschöpft wurde. Es ging nicht nur um die Normgebung in einem über das Reichserzkanzleramt der regierenden Kurfürsten für das gesamte Alte Reich Vorbildfunktion tragenden Gebilde, sondern auch - und dies durchaus gleichrangig - um die Praxis der Um- und Durchsetzung von Policeynormen. Die tägliche Arbeit staatlicher Strafjustiz rückte in den Fokus.
Obwohl sich die Fallstudie auch auf die Policey-Datenbanken am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main stützen konnte, baut die Untersuchung in erster Linie auf die reiche archivische Überlieferung zu Kurmainz. Erstmalig wurden für ein Territorium der Größe von Kurmainz die Akten der zentralen Regierungsbehörden (Hofrat und Landesregierung) systematisch mit nachgeordneten Instanzen auf mittlerer und lokaler Ebene im thematisch durchaus diffusen Lichte frühmoderner Policey verknüpft. "Vollständigkeit" können dabei v.a. die Themenbereiche der Festkultur, der Gesetzgebung zu Luxus, Ehe und Sexualität sowie, sozial- und kulturgeschichtlich aufbereitet, der Materien Armen-, Vaganten- und Bettelwesen beanspruchen. Nur kursorisch werden dagegen die sozioökonomischen Wissensfelder der Wirtschafts- und Wohlfahrtspolicey behandelt. Dass auch hier für Kurmainz Interessantes zu erwarten gewesen wäre, zeigen die Fallstudien von Thomas Dehesseles zum Herzogtum Braunschweig-Wolffenbüttel [1] bzw. von Reiner Schulze zur Mark Brandenburg. [2] Verweise auf mögliche Varianten zur allumfassenden frühmodernen Policey sind keineswegs als Desiderata anzumahnen, sondern sie stehen für den gelungenen und methodisch zielorientiert geführten Ansatz, die Mainzer Fallstudie nicht zu einer farblosen histoire totale ausufern zu lassen.
Die nach systematischen Kriterien vorgenommenen Kapiteleinteilungen sind Gewähr dafür, dass sich der Leser in den weit ausholenden, zugleich gedrängten Foucault-Härterschen Wissensfeldern nicht verliert. Im ersten Teil werden wesentliche Grundlagen gelegt. Strukturen, Bedingungen, Entwicklungslinien, Verfahren und Institutionen der Policeygesetzgebung, der Strafjustiz und der Normendurchsetzung werden für Kurmainz vorgestellt und diskutiert. Der Policeyapparat wird in all seinen Verästelungen und für die gesamte Zeitspanne vom ausgehenden 15. bis zum Ende des Ancien Régime ausgebreitet. Es geht um Regelungsinhalte, Rechtsformen, Normadressaten, Strafbestimmungen, aber auch um die Techniken bei der Um- und Durchsetzung von Policeymaterien. Die Ebene der Durchsetzung und der Wirkung von Policeynormen ist also vollkommen integriert, so dass zu keiner Zeit in Unkenntnis der Überlieferung ein zu linear entworfenes Erklärungsmodell entsteht. Die beispielsweise von Achim Landwehr [3] und Martin Dinges [4] dezentral erprobten Wirkungsmodelle werden durch den Rückgriff auf traditionelle Felder von Rechtsgeschichte und historischer Frühneuzeitforschung mit Blick auf die Allgegenwärtigkeit der Zentralämter zum Teil erheblich korrigiert. Der Kurmainzer Befund bestätigt demnach die frühmoderne Policeygesetzgebung als ein Modell zur sozialen Kontrolle, wird aber vom Verfasser nicht als ein von der Forschung zurecht in seiner Einseitigkeit kritisiertes Vehikel zur Sozialdisziplinierung verstanden, sondern als ein Schlüssel, um Intentionen, Funktionen, Wirkung und Durchsetzung frühneuzeitlicher Policey im Rahmen der Strafjustiz (10) exakt zu beschreiben.
Im zweiten Teil der Arbeit wird als wichtige Ergänzung zur historischen Kriminalitätsforschung der Praxisbezug von Policey und Strafjustiz in einem gesellschaftlichen Interaktionsmodell vorgestellt. Hier kommen die Entscheidungs- und Sanktionspraktiken der zentralen Justiz- und Policeybehörden des Kurstaates ins Spiel. Auch wenn Normdurchsetzung, Devianz und Strafen exemplarisch analysiert werden, bleiben weder die lokalen Entscheidungsträger (Frevel- und Rüggerichte, Stadt- und Amtsgerichte) noch die für den Kurstaat typischen kirchlich-geistlichen Gerichtsinstanzen ausgespart. Die geistliche Gerichtsbarkeit spielte seit der Regierung Johann Philipp von Schönborns keine große Rolle mehr. An dieser Stelle wäre freilich zu fragen, ob damit die Unterschiede im Justizwesen geistlicher wie weltlicher Territorien ganz aufgehoben wurden oder ob es sich nur um ein regionales Spezifikum handelte.
Die Ergebnisse der Untersuchung gehen weit über den engeren Befund einer Fallstudie hinaus. Sie zeichnen ein zuverlässiges Bild des frühmodernen Regelungsbedarfes und der parallel dazu laufenden Implementierungstechniken. Gerade mit Blick auf die französische und angelsächsische Forschung muss erkannt werden, dass es keinen generellen Zugang zum öffentlichen bzw. staatlichen Strafrecht geben kann. Die Justizpraxis war in wesentlichen Teilen abhängig oder zumindest beeinflusst von der "guten Policey". Diese wiederum ist stark mit dem Staatenbildungsprozess in den jeweiligen Territorien verknüpft - sie ist also nur territorial bzw. institutionsbezogen ausdifferenziert zu bearbeiten.
Härters Arbeit belegt ferner, dass das als rückständig und anachronistisch gezeichnete Bild geistlicher Staaten im Alten Reich höchst revisionsbedürftig ist. Hinsichtlich der Policeygesetzgebung war Kurmainz mit kleinen zeitlichen Verzögerungen auf der "Höhe" anderer europäischer - weltlicher wie geistlicher, katholischer wie protestantischer - Staaten.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis liegt in dem Befund, dass das Funktionieren von Policey und Strafjustiz nicht monokausal aus der Regelungswut frühmoderner Zentralbehörden heraus erklärt werden kann, sondern dass es eine gesellschaftliche Nachfrage nach "guter Ordnung" gab. Wohlfahrt und Ökonomie, Sicherheit und Strafverfolgung brachten allerdings zahlreiche Zielkonflikte für die Gesellschaft, und es gab durchaus unterschiedliche Interessen innerhalb der Eliten und der Untertanen. Inwieweit die Kurmainzer Eliten (Stiftsadel, Domkapitel usw.) vor dem Hintergrund der in geistlichen Staaten typischen "Vielregiererei" für den Staatsbildungsprozess kontraproduktiv handelten, bleibt allerdings offen.
Ferner bestätigt Härter die wichtige Rolle der sogenannten "leichteren" Delikte (petty crimes, petite délinquance) für die Kodifizierung des Straf- und Policeyrechts. Hier war der Weg richtig, v.a. die Konfliktfelder von Festkultur, Ehe, Sexualität und Eigentumsdelikten zu untersuchen. Dagegen rückte die in der älteren Forschung focussierte Hochgerichts- oder Malefizgerichtsbarkeit in den Hintergrund. Interessant sind sicher auch die Befunde zur Policey in lokalen Räumen, die während des 18. Jahrhunderts, soweit die paramilitärische Beschaffenheit der Policey angesprochen wurde, in Kurmainz durchaus mit Frankreich Schritt halten konnte.
Schließlich bleibt die Befürchtung, ob nicht die in jahrelanger Arbeit erworbene Exzellenz in schier endloser Quellen-, Forschungs- und Literaturbearbeitung die eine oder andere lineare Entwicklung verschüttete. Die für weitere Regionalstudien - jüngst von André Holenstein [5] inszeniert - sehr ermunternde Aussage kann aber nur heißen: weiter so! Auch in Kurmainz wurde mit zahlreichen Strafformen mehr regional experimentiert und improvisiert, als dass man sich ausschließlich grenzüberschreitend europäisch orientiert hätte. Legislativer Import führte nicht zur Ohnmacht im eigenen Wirkungsbereich. Vorschnell gezogene Allgemeinbefunde - nicht nur die von Marc Raeff [6] - hielten einer Überprüfung an Kurmainzer Beispielen nicht stand. Selbst gängiges Handbuchwissen wurde falsifiziert. Härters Policeywerk, das sich mit zahlreichen farbigen Grafiken auch visuell ansprechend präsentiert, und das über ein Register - leider ohne Sachregister - gut erschlossen ist, wird der Frühneuzeit-Forschung wichtige Impulse geben. So wie Emile Durkheim den Strafen die vornehme Funktion zuschrieb, sozialen Zusammenhalt zu schaffen, so könnte Karl Härters magnum opus zu einem unverzichtbaren Orientierungspunkt für eine sich ständig weiter differenzierende Policey- und Strafgeschichtsforschung werden.
Anmerkungen:
[1] Thomas Dehesseles: Policey, Handel und Kredit im Herzogtum Braunschweig-Wolffenbüttel in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1999.
[2] Reiner Schulze: Die Policeygesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg in der frühen Neuzeit, Aalen 1978.
[3] Achim Landwehr: "Normdurchsetzung" in der Frühen Neuzeit?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), 146-162.
[4] Martin Dinges: Normsetzung als Praxis? Oder: Warum werden die Normen zur Sachkultur und zum Verhalten so häufig wiederholt und was bedeutet dies für den Prozess der "Sozialdisziplinierung"?, in: Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau, 7. Oktober 1996, Wien 1997, 39-53.
[5] André Holenstein: "Gute Policey" und lokale Gesellschaft im Ancien Ré gime. Das Fallbeispiel Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003.
[6] Marc Raeff: The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600-1800, New Haven / London 1983.
Wolfgang Wüst