Rezension über:

Gerhard Deter: Handwerk vor dem Untergang? Das westfälische Kleingewerbe im Spiegel der preußischen Gewerbetabellen 1816-1861 (= Studien zur Gewerbe- und Handelsgeschichte der vorindustriellen Zeit; Bd. 25), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 160 S., ISBN 978-3-515-08791-9, 24,00
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Rezension von:
Friedrich Lenger
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Lenger: Rezension von: Gerhard Deter: Handwerk vor dem Untergang? Das westfälische Kleingewerbe im Spiegel der preußischen Gewerbetabellen 1816-1861, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/9618.html


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Gerhard Deter: Handwerk vor dem Untergang?

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Deters Studie widmet sich der schon im 19. Jahrhundert lebhaft diskutierten Frage, ob die Industrialisierung den Untergang des Handwerks zur Folge habe. Da sich nun aber in der Forschung spätestens seit den 1970er-Jahren ein Konsens abzeichnete, dass eine einfache Niedergangsthese zurückzuweisen und vielmehr von einer komplexen Gemengelage von Schrumpfungs- und Wachstumsprozessen, von Verdrängungs- und Anpassungsprozessen auszugehen sei, wirkt eine solche Problemstellung heute ein wenig antiquiert. Auch methodisch knüpft der Autor unmittelbar an die wegweisenden Arbeiten Wolfram Fischers und insbesondere Karl Heinrich Kaufholds aus den 1960er- und frühen 1970er-Jahren an, indem er die Angaben der preußischen Gewerbetabellen zu den Zahlen der Meister und Gehilfen in wichtigen Handwerkszweigen von den frühen 1820er-Jahren bis 1861 auswertet. Der Grenzen dieses sehr spröden Zahlenmaterials ist er sich durchaus bewusst und kündigt bereits eine umfassendere Darstellung an, die zusätzliche Quellen heranziehen soll.

Ob Deter gut beraten war, seine Auswertung der statistischen Zahlenreihen vorab separat zu publizieren, scheint zweifelhaft. Denn zum einen überstrapaziert er deren Aussagekraft immer wieder und schließt etwa von einer Zunahme der Zahl der Betriebe und/oder einer Vergrößerung ihrer durchschnittlichen Größe auf die Prosperität ihrer Besitzer. Und zum anderen verzichtet er auf eine eingehendere Begründung des Untersuchungsraums und vor allem der Untersuchungsebene. Nun ist die regionale Beschränkung - hier auf Westfalen - sicher legitim, doch hätte man zu ihrer Rechtfertigung näheren Aufschluss über die (vermutete) Spezifik des westfälischen Falles erwarten dürfen. Vor allem aber ist es alles andere als selbstverständlich, auf der Ebene der Regierungsbezirke (Münster, Arnsberg, Minden) zu operieren, zumal diese - wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß - allesamt aus stark agrarisch, stark protoindustriell und bereits fabrikindustriell geprägten Kreisen zusammengesetzt sind. Es bedarf keiner "jeux d'échelles" (J. Revel), um einzusehen, dass man den thematisierten Wirkungszusammenhängen zwischen Industrialisierung und Handwerksentwicklung mit einem kleinräumigeren und hinsichtlich der Datenerhebung zugegebenermaßen mühsameren Zugriff besser auf die Spur kommen würde. Auch von einer systematischen Stadt-Land-Differenzierung wären weiterführende Erkenntnisse zu erwarten gewesen, zumal der Autor im bedeutenden "Stellenwert des Landhandwerks" (24) ein wichtiges Charakteristikum der preußischen Westprovinzen sieht.

Stattdessen bietet der schmale Band eine regionale Exemplifizierung des Bekannten. Nach einer knappen Einordnung der von einer besonders starken Zunahme der Handwerkerdichte gekennzeichneten westfälischen Entwicklung in den preußischen Gesamtzusammenhang nimmt Deter in dem gut 80 Seiten starken Hauptkapitel die zahlenmäßige Entwicklung der wichtigsten Handwerkszweige in den westfälischen Regierungsbezirken in den Blick. Das ist für landes- wie handwerksgeschichtliche Spezialisten sicher durchaus von Interesse, analytisch bleibt es durchweg unbefriedigend. Das sei hier nur an einem Beispiel erläutert: "Die starke Zunahme der durchschnittlichen Handwerkerdichte, der Zahl der Handwerksbetriebe also, und das zur gleichen Zeit ganz unbedeutende Wachstum der durchschnittlichen Betriebsgröße macht überdeutlich, dass sich der Aufschwung des Tischlergewerbes in Westfalen keineswegs als strukturändernder Konzentrationsprozess erwies. Die Meister hielten vielmehr auch in dieser so außergewöhnlich prosperierenden Sparte an der kleinbetrieblichen Produktionsweise fest." (70) Lassen wir einmal den unterstellten Aufschwung und die angenommene Prosperität außer Acht, scheint es bemerkenswert, dass der Autor die wenig veränderten durchschnittlichen Betriebsgrößen umstandslos als Ausdruck eines Festhaltens an der kleinbetrieblichen Produktionsweise interpretiert. Denn zum einen ist für die nahe Rheinprovinz zumindest für den städtischen Bereich nachgewiesen, dass es in dieser Zeit auch im Tischlerhandwerk zu einem ausgeprägten Polarisierungsprozess gekommen ist, dass sich also die Schere zwischen verarmten und teilweise in verlagsmäßiger Abhängigkeit stehenden Alleinmeistern und den Besitzern mittelgroßer Betriebe weiter geöffnet hat. Mit einer in etwa gleich bleibenden durchschnittlichen Betriebsgröße ist das durchaus vereinbar, wie ja auch gegenläufige Tendenzen in Stadt und Land in einer konstanten Gesamtdurchschnittszahl aufgehoben sein können. Darüber denkt der Autor, der die landes- wie auch die handwerksgeschichtliche Forschungsliteratur der letzten 25 Jahre nur sehr selektiv wahrgenommen hat, viel zu wenig nach. Stattdessen meint er annehmen zu dürfen: "Auch der Verkauf der Erzeugnisse in Möbelmagazinen, die sich in den größeren Städten etablierten, veränderte die Dominanz kleinbetrieblicher Produktionsweise ausweislich des statistischen Befundes zunächst nicht." (71)

Es ist nicht sinnvoll, die handwerksspezifischen Befunde hier im Einzelnen aufzuführen. Ein knappes Schlusskapitel führt sie zu einem insgesamt recht rosigen Bild zusammen, das das Handwerk als Nutznießer industrialisierungsbedingten Wohlstandszuwachses sieht. Problematisch an diesem Fazit scheint vor allem, dass die herangezogenen Zahlenreihen zu den westfälischen Regierungsbezirken den Nachweis eines solchen Zusammenhangs gar nicht gestatten. In welchem Maße er bis 1861 wirksam geworden sein mag, muss also offen bleiben. Ob die angekündigte Studie von Deter hier weiteren Aufschluss gibt, bleibt abzuwarten; seine hier besprochene Studie bleibt jedenfalls deutlich hinter dem längst erreichten Forschungsstand zurück.

Friedrich Lenger