Thomas Großbölting: "Im Reich der Arbeit". Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790-1914 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 21), München: Oldenbourg 2008, 518 S., 38 Abb., ISBN 978-3-486-58128-7, EUR 69,80
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Gegenstand der hier im Druck vorgelegten Habilitationsschrift von Thomas Großbölting sind die deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen des langen 19. Jahrhunderts, besonders aber seit den 1840er Jahren. Diese Ausstellungen waren - das ist die im Folgenden dicht belegte Ausgangsthese - "Deutungsangebote und Erfahrungsorte für den technischen und industriellen Fortschritt, die Ausbildung der Konsumgesellschaft, die Verlockungen und Angebote einer entstehenden Freizeitindustrie." (11) Zu Recht sieht der Autor das nationale Ausstellungswesen gegenüber den vielbehandelten Weltausstellungen als vernachlässigt an, bezieht aber die letzteren als beispielgebend breit mit ein. Ohnehin gehört es zu den Stärken der vorliegenden Arbeit, ihren Untersuchungsgegenstand stets in weite Horizonte einzurücken. Methodisch hat er sich vor allem von Roger Chartier und seinen Überlegungen zu einer Geschichte der Repräsentationen anregen lassen. So will er "die in vielen ideengeschichtlichen Zugriffen klaffende Lücke zwischen der Produktion und dem Konsum 'geistiger Erzeugnisse'" überbrücken, "indem die bei den Ausstellungen zu beobachtenden Praktiken und Deutungen sowohl auf Seiten der Medienproduzenten - sprich: der Veranstalter und Aussteller - wie auch auf der der Rezipienten ins Zentrum der Analyse gerückt werden." (36) An diesem hohen Anspruch wird die Untersuchung zu messen sein, die sich eines zweistufigen Untersuchungsdesigns bedient: Zum einen wird eine Gesamtgeschichte des Mediums Industrie- und Gewerbeausstellung angestrebt, zum anderen vertieft der Verfasser diese durch ausgewählte Fallstudien, die sich insbesondere zu den Düsseldorfer Ausstellungen von 1852, 1880 und 1902 als sehr ergiebig erweisen.
Gegliedert ist die insgesamt gut lesbare Studie in drei jeweils mehr als hundert Seiten starke Abschnitte: Den Anfang macht ein Abriss der Grundstrukturen und Entwicklungen des Ausstellungswesens im Kontext der Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts. Hier wird zunächst auf der Basis der vorliegenden Sekundärliteratur die Genese der modernen Ausstellung nachgezeichnet und dann der Typus der Industrie- und Gewerbeausstellung einerseits in Beziehung zu Kunst- und Kunstgewerbemuseen, andererseits in Abgrenzung zu Waren- und Mustermessen näher bestimmt. Zu Recht weit ausholend greift Großbölting bis zu den Nationalausstellungen des revolutionären Frankreichs zurück, deren Prägekraft für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts er gut belegen kann. Sein eigentlicher Schwerpunkt aber liegt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so dass sich seine Arbeit gut mit der wichtigen Studie von Ingeborg Cleve (Geschmack, Kunst und Konsum, Göttingen 1996) ergänzt. Denn auch im Ausstellungswesen, das zeigt Großbölting sehr deutlich, bilden die 1840er Jahre so etwas wie eine Take-off-Phase. Von nun an tritt staatliche Protektion und Unterstützung stärker in den Hintergrund und beginnen die Gewerbetreibenden selbst zu den Initiatoren der Ausstellungen zu werden. Einen massiven Aufschwung bringen dann vor allem die 1870er und 1880er Jahre, und zunehmend wächst den Ausstellungen nun auch die Funktion zu, den Städtetourismus zu beleben. Folgerichtig unterscheidet der Autor zwei Phasen: "eine frühindustrielle, ganz der Gewerbeförderung verpflichtete Ausstellungspraxis, die vor allem von staatlicher Seite wie auch von staatsnahen Vereinen und Gewerbevereinen getragen wurde, und eine seit der Jahrhundertmitte praktizierte Ausstellungskultur, die von dem Bemühen einer neuen gesellschaftlichen Elite aus Industriellen, hohen Beamten und Intellektuellen getragen wurde." (148f.) Dieser neuen Elite, so wird am Düsseldorfer Beispiel anschaulich gezeigt, ging es dabei immer auch um ihre Selbstrepräsentation.
Im zweiten Großkapitel werden Ausstellungen dann als "soziale und kulturelle Praxis" behandelt. Mit Blick auf den Anspruch der Untersuchung bildet es ohne Zweifel deren Kern. Hier "sollen die Klassifizierungs- und die daran zumindest prinzipiell gebundenen Wahrnehmungsschemata herausgearbeitet werden, die der Ausstellung, ihrer Kommunizierung und der Selbstthematisierung der sich ausstellenden Gesellschaft unterlagen." (174) Im Folgenden findet dann auch immer wieder Foucaults suggestive Formulierung von der "Ordnung der Dinge" Eingang. Gleichwohl lässt sich die Spannung zwischen den vergleichsweise gut belegbaren Techniken der Präsentation und den Sehhilfen für Ausstellungsbesucher auf der einen Seite sowie der Besucherpraxis auf der anderen Seite nicht auflösen. So ist es zwar hochinteressant zu sehen, wie Ratgeberliteratur und insbesondere die Presse unterschiedlichen Besuchertypen unterschiedliche Sehweisen empfehlen, über die eigentliche Besucherpraxis ist damit aber noch wenig ausgesagt. Die gelegentlich angeführten Selbstzeugnisse deuten eher auf Überforderung und Verwirrung und deshalb bleibt die von Großbölting im Anschluss an den detailliert nachgezeichneten Einzug von Aussichtstürmen oder entsprechenden Plattformen entwickelte These - "der Blick aus der Totalen transformiert Unübersichtlichkeit in Ordnung und Eindrücke in Wissen." (196) - letztlich kaum belegbar. Hier hätte man sich eine klarere Markierung der Grenzen des Möglichen gewünscht. Denn diese Grenzen treten gerade deshalb so deutlich hervor, weil Großbölting in bewundernswerter Weise aus den Quellen (etwa zu den verschiedenen Klassifikationssystemen der Exponate) herausholt, was nur herausgeholt werden kann. So beschreibt er gleichermaßen einfühlsam Formen der Exponatspräsentation und den immer stärker werdenden Trend zur Kommerzialisierung und Eventisierung des Ausstellungswesens, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Vorführung von Seeschlachten reichte. Überzeugend gerät auch seine Analyse der mit den Ausstellungen verbundenen Feste, die neben der Technik vor allem die Nation feierten, und der Architektur des Ausstellungswesens. Wenn er auch letztere als Kommunikation begreift, bleibt hier gleichwohl das kaum lösbare methodische Problem, dass die Empfängerseite allenfalls in Ansätzen erfasst werden kann.
Das dritte und letzte Großkapitel ist - vielleicht etwas unglücklich - "Themen der Ausstellung" überschrieben. Denn es sind weniger die Themen der Ausstellung als die Themen der Ausstellungsdiskussionen, die hier aufgegriffen werden. So ist gleich das erste dieser Themen, die Frage nach der Repräsentation der Arbeiterschaft und der Arbeit, streng genommen ein Nicht-Thema. Denn es ist gerade die fehlende Würdigung der Arbeiterschaft, die Großbölting nachweist und die schon die zeitgenössische Ausstellungskritik thematisiert hat. Nicht zuletzt in Form von (drohenden) Streiks gerieten hier Realität und Repräsentation immer wieder in Konflikt. Neben der Arbeit sind es vor allem Fortschritt und Technik, die die verschiedenen Ausstellungen thematisch miteinander verbinden und vom Verfasser vielleicht am Beispiel der von 1,4 Millionen Personen besuchten Frankfurter Elektrotechnischen Ausstellung von 1891 am eindrücklichsten behandelt werden. Gerade hier bewähren sich auch die zahlreichen Abbildungen. Als wiederkehrendes Grundmotiv dieses Kapitels erscheint die Absicht der Ausstellungsmacher, das unübersehbare und faszinierende Neue der Technik stets mit dem Alten zu versöhnen. Das konnte bis zur Integration einer - in anderer Perspektive jetzt auch von Katja Zelljadt untersuchten - Sonderausstellung "Alt-Berlin" reichen, die schon 1896 eine gleichsam disneyförmige Welt schuf. Sie zeigt einmal mehr, dass der Verfasser gute Gründe hat, sein Thema auch in den Kontext der Entstehung der Konsumgesellschaft und einer Unterhaltungsindustrie zu stellen.
In einem ausführlichen Resümee fasst Thomas Großbölting noch einmal die wichtigsten Ergebnisse seiner Arbeit zusammen. Hier unterstreicht er einerseits auch erneut seinen Anspruch, eine "Analyse der Praxis in den Ausstellungen sowie der Deutungsangebote" lege "die mentalen Bilder und ihre Syntax frei, mit denen sich die Zeitgenossen über die Industrialisierung und ihre gesellschaftlichen Folgen verständigten." (418) Dass sich über die Rezeption dieser Deutungsangebote und die Wirkungsweise dieser mentalen Bilder nur sehr vorsichtig Aussagen machen lassen, ist dem Verfasser nicht anzulasten. Vielmehr ist ihm zu danken für ein ungemein anregendes und informatives Buch zu einem wichtigen und aktuellen Thema.
Friedrich Lenger