Fikret Adanir / Suraiya Faroqhi (eds.): The Ottomans and the Balkans. A Discussion of Historiography, Leiden / Boston: Brill 2002, viii + 448 S., ISBN 978-90-04-11902-4, EUR 119,00
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Gut Ding braucht Weil ... Das gilt für eine ganze Reihe von Sammelbänden, denn nur in seltenen Fällen hat man das Glück, dass im Anschluss an eine inhaltlich geschlossene Konferenz oder ein gut vorbereitetes Symposium die Vortragenden der Bitte des Veranstalters um rasche Ausarbeitung der Beiträge für eine Publikation auch wirklich nachkommen. Allzu oft sind es doch nur Lippenbekenntnisse, was sich bisweilen jedoch erst nach Jahren immer neuer Bitten um Aufschub und hartnäckiger Abgabeversprechen herausstellt. So war es auch bei diesem Band: Eine Sektion auf einem Deutschen Historikertag Anfang der 1990er-Jahre bildete den Ausgangspunkt, doch sollten weitere neun Jahre vergehen, bis dann tatsächlich genug Manuskripte redigiert vorlagen, um ein substanzielles Werk zu veröffentlichen.
Liest man den Titel des Bandes, so ist klar, dass es sowohl um die nationale Geschichtsschreibung auf dem Balkan wie auch um die diesbezügliche osmanische bzw. türkische Darstellung der eigenen Vergangenheit gehen soll. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen, auch wenn diese Vorgabe nicht immer erfüllt wird. Gerade der erste Beitrag von Christoph Neumann ("Bad Times and Better Self: Definitions of Identity and Strategies for Development in Late Ottoman History [1850-1900]", 57-78) beschäftigt sich ausschließlich mit osmanischen Chronisten und deren Weltsicht, ohne allerdings die europäischen Provinzen in seine Betrachtung mit einzubeziehen. Er beschreibt, auf welche Weise Autoren wie Namık Kemal, Hayrullah, Ahmed Cevdet, Ahmed Vefik und Mustafa Nuri die schwierigen letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mental bewältigten. Sie alle waren auf der Suche nach einem politischen Modell, das eine Gesellschaft hervorzubringen versprach, die der europäischen Hegemonie Paroli bieten konnte. Dabei musste natürlich die Legitimierung des Osmanischen Reiches im Vordergrund stehen. Auftrieb gab bei der Selbstfindungssuche zum einen der japanische Sieg gegen die Großmacht Russland im Jahre 1905. Zum anderen begann man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf den ägyptischen Reformer Muhammad Ali (reg. 1806-1848) zu besinnen.
An diese Ausführungen schließen sich Büşra Ersanlıs Anmerkungen zur türkischen Geschichtsschreibung ("The Ottoman Empire in the Historiography of the Kemalist Era: A Theory of Fatal Decline", 115-154) an. Die historiografische Rechtfertigung des neuen kemalistischen Staates übernahm in der Türkei in erster Linie die Zunft der Historiker. Dabei sahen sich die Forscher in den 1930er-Jahren auf der einen Seite den offiziellen politischen Richtlinien verpflichtet. Auf der anderen Seite wollten sie den gängigen wissenschaftlichen Objektivitätsansprüchen gerecht werden. Die meisten von ihnen sahen sich als Träger einer Kulturrevolution, die ein altes, überkommenes und korruptes System grundständig erneuern wollten. Nationalistische und zeittypisch rassistische Argumentationen und Abstammungstheorien gewannen allmählich die Oberhand. Schaut man genau hin, so stellt man fest, dass der Bruch zwischen den spätosmanischen Historiografen und ihren Nachfolgern in der Frühzeit der Republik nicht wirklich groß war. Die letzten osmanischen Sultane wurden weiterhin verherrlicht. Das Thema "Religion" hingegen war schwierig, da der neue Staat dezidiert säkular ausgerichtet war.
Eine ähnliche Ausrichtung hat auch Hercules Millas' durchaus polemischer Artikel über "Non-Muslim Minorities in the Historiography of Republican Turkey: the Greek Case" (155-192). Hier geht es um den historiografischen Umgang türkischer Historiker und Intellektueller mit der gesellschaftlichen Position des griechischen Bevölkerungsanteils während der Zeit des Osmanischen Reiches. In zugespitzter Diktion greift Millas die vor allem in Schulbüchern und in Vorträgen auf verschiedenen Historikerkongressen der 1930er-Jahre vorherrschende essentialistische und nationalistische Interpretation des türkisch-griechischen Verhältnisses an. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Stimmen, die zugeben, dass die Griechen - wie auch andere Nichtmuslime - keineswegs die gleichen Rechte wie die muslimische Bevölkerung hatten. Gleichzeitig hält sich hartnäckig der Vorwurf, dass insbesondere die griechische Gruppe mit Undankbarkeit auf die ihnen gewährten Privilegien reagierte. Millas fordert nachdrücklich eine sachlichere und unvoreingenommenere Diskussion.
Eine Verlagerung des Schwerpunktes weg vom Zentrum hin zu den Provinzen bietet Suraiya Faroqhi ("Coping with the Central State, Coping with Local Power: Ottoman Regions and Notables from the Sixteenth to the Early Nineteenth Century", 351-382). Sie widmet sich der unter Osmanisten sehr intensiv geführten Diskussion um das Verhältnis der Kernregion zu den Randgebieten und umgekehrt. Schmerzlich werden Einzelstudien vermisst, die die mannigfaltigen und komplexen ökonomischen und kulturellen Kontakte und Dependenzen im Inneren des Osmanischen Reiches beleuchten. Anbieten würden sich biografisch angelegte Arbeiten zu einzelnen lokalen Notabeln oder zu Istanbuler Höflingen, deren Karriereweg oftmals zwangsläufig über lange Dienste in den Provinzen führte.
Forschungsprobleme und -perspektiven thematisiert auch Klaus-Peter Matschke ("Research Problems Concerning the Transition to Tourkokratia: The Byzantine Standpoint", 79-114). An der osmanischen Eroberung partizipierte in nicht unerheblichem Umfang die autochthone Bevölkerung, sei es als Söldner, sei es durch kommerzielle Aktivitäten. Weitere thematische Felder stellen etwa die bisweilen recht ambivalente Haltung der orthodoxen Kirche und der großen Klöster zu den Neuankömmlingen und Eroberern sowie die Versuche byzantinischer Aristokraten dar, unter veränderten Rahmenbedingungen ihre Pfründe und ihren Einfluss zu behalten. Schließlich bietet, so Matschke, auch die Entwicklung urbaner Zentren auf dem Balkan noch viele Möglichkeiten für innovative und ertragreiche Ansätze.
Die Sicht der Betroffenen fokussiert in einem weiteren gelungenen Aufsatz der an der Marc-Bloch-Universität in Strassburg lehrende Johann Strauss ("Ottoman Rule Experienced and Remembered: Remarks on Some Local Greek Chronicles of the Tourkokratia", 193-222). Die aus dem 17. Jahrhundert stammenden Betrachtungen eines Priesters aus Serrés (Serrai) mit Namen Papasynadinos über seine Heimatstadt, die Athener Lokalchronik eines gewissen Panayis Skouzes aus dem 18. Jahrhundert und der anonyme Bericht über die letzten Jahrzehnte osmanischer Herrschaft auf Zypern liefern uns sehr gute Einblicke in regionale Vorstellungswelten, die die Schilderungen der Hofchronisten und anderer höfischer Quellen entscheidend korrigieren.
Die letzten drei Beiträge in diesem Sammelband sind den Problemen der nationalen Geschichtsschreibung auf dem Balkan gewidmet. Die Frage der Islamisierung behandelt Antonina Zhelyazkova ("Islamization in the Balkans as a Historiographic Problem: the Southeast-European Perspective", 223-266). Sie widersetzt sich ganz entschieden der häufig anzutreffenden national-romantischen Geschichtsklitterung. Zwei beliebig herausgegriffene Topoi der bulgarischen Historiografie lauten etwa: Über eine dezidiert bulgarische Bevölkerung ergoss sich eine Flut nomadischer türkischer Einwanderer bzw. große Teile der autochthonen Bevölkerung traten gezwungenermaßen zum Islam über und wurden osmanisiert oder gar türkisiert. Wie unsachgemäß solche Pauschalierungen sind, zeigt Zhelyazkova am Beispiel der Bergbevölkerung der Rhodopes. Die Quellen, die einen unfreiwilligen Übertritt zum Islam suggerieren, entpuppen sich als Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert.
Auf die besonderen Probleme bosnischer Historiker geht Fikret Adanır ein ("The Formation of a 'Muslim' Nation in Bosnia-Hercegovina: a Historiographic Discussion", 267-304). Seit der Zwischenkriegszeit debattiert man ausgiebig über die Gründe, die zur Entstehung einer muslimischen Identität in Bosnien geführt haben. Es wird von bosnischer Seite vermutet, dass eine Ursache die große Unzufriedenheit angesichts der Unterdrückung durch die christlichen Kirchen gewesen ist. Allerdings finden sich bei genauer Analyse, so kann Adanır nachweisen, in den überlieferten Dokumenten keine belastbaren Hinweise, die diesen Standpunkt untermauern könnten.
Die ungarische Geschichtswissenschaft steht schließlich im Mittelpunkt der Studie von Géza Dávid und Pál Fodor ("Hungarian Studies in Ottoman History", 305-350). Nachdem nach dem 1. Weltkrieg das Habsburgerreich zerschlagen worden war, kam die Historikerzunft in Erklärungsnöte. Eine gängige Interpretation war, die Schwäche der Donaumonarchie auf die Auszehrung der indigenen Bevölkerung und die Vertreibung der Eliten während der Osmanenherrschaft zurückzuführen. Es wurde die These aufgestellt, die Osmanen hätten die Ungarn daran gehindert, kulturell und wirtschaftlich den europäischen Weg in die Moderne zu beschreiten. Grundsätzlich sei die osmanische Gesellschaft inkompatibel mit der ungarischen Mentalität gewesen. Erst seit einigen Jahren stellen jüngere Fachkollegen diese Deutung einer durch die Türken verursachten "Provinzialisierung" des Landes infrage.
Insgesamt gesehen hat sich das lange Warten auf die Publikation dieses Sammelbandes gelohnt. Die Thematik, die natürlich nicht vollständig, erschöpfend und flächendeckend abgehandelt werden kann, ist hochinteressant, und die einzelnen Beiträge tragen viel zur Diskussion und zur Klärung diverser Fehlurteile bei. Darüber hinaus werfen sie eine ganze Reihe neuer Fragen auf. Sehr zur Homogenität des Werkes trägt aber in erster Linie die vorzügliche Qualität der einzelnen Aufsätze bei. Alle Analysen bewegen sich auf einem sehr hohen Niveau, große Unterschiede sind zum Glück nicht festzustellen.
Stephan Conermann