Mark Cioc: The Rhine. An Eco-Biography, 1815-2000. Foreword by William Cronon, Seattle: University of Washington Press 2002, xiii + 263 S., 43 ill., ISBN 978-0-295-98254-0, USD 29,95
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Ja, Mark Cioc schreibt 'Verschmutzungsgeschichte'. Und was läge näher angesichts eines Flusses, an dessen Ufern noch heute zwischen 10 und 20% der globalen chemischen Produktion beheimatet sind (142) und dessen Einzugsgebiet zu den am stärksten industrialisierten Regionen weltweit zählt? So sind besonders die mittleren Kapitel des nun als Paperback vorliegenden Bandes (4. The Carboniferous Rhine, 5. Sacrificing a River) eindrücklich in ihrer präzisen Diskussion und genauen stofflichen Identifizierung technischer Prozesse der Montan-, Chemie- und Papierindustrie und ihrer ökologischen Auswirkungen.
Doch Cioc beschränkt sich nicht darauf, anthropogene Einflüsse auf den Rhein und seine Zuflüsse in stofflichen Kategorien zu qualifizieren und quantifizieren; er will die Entwicklung dieses Flusses im 19. und 20. Jahrhundert umfassend nachzeichnen. Er erzählt eine "eco-biography" des Rheins, eine Lebensgeschichte des Flusses aus ökologischer Perspektive. Cioc macht sich damit weder eines unwissenschaftlichen Anthropomorphismus der Darstellung schuldig, noch legt er sich historiografisch auf eine Akteursqualität naturaler Strukturen fest. Denn Ciocs Rhein bleibt weitgehend Objekt menschlichen Wirkens. "Humans are the principal actors" (4). Nur ganz am Schluss scheint mit dem Hinweis auf die stete fluviale Eigendynamik als eigensinniger Antagonistin aller wasserbaulichen Ingenieursleistung Akteurspotenz des Flusses durch. Und was die handelnden Menschen betrifft, so spielen in Ciocs Porträt eher die Ingenieure, Politiker, Unternehmer und Biologen tragende Rollen als die Fischer, Bauern und Stadtbewohner - die Menschen am Fluss, die mit Überschwemmungen ebenso zu kämpfen haben wie mit verschmutztem Wasser. [1]
Cioc verfolgt die Entwicklung des "modernen" Rheins von 1815 bis 2000. Die Untersuchung berücksichtigt das gesamte Einzugsgebiet des Flusses, den Alpenrhein und seine Zuflüsse in den Schweizer Alpen, den Bodensee, die Schweizer Aare als wichtigsten alpinen Zufluss westlich des Bodensees, den Hochrhein zwischen Konstanz und Basel, den Oberrhein, den Mittelrhein zwischen Mainz und Bonn, den Niederrhein und das holländische Mündungsdelta. Naturgemäß bilden die Zonen größter industrieller Konzentration auch Schwerpunkte der Darstellung. Das Rheineinzugsgebiet berührt in der Gegenwart acht Staaten. Diese Internationalität wird von Cioc in ihrer Bedeutung hervorgehoben. Besonders vier Staaten, die Schweiz, Deutschland, Frankreich und die Niederlande seien wichtig für die "political ecology" des Flusses (23). Der Wiener Kongress nahm 1815 auch für den Rhein und sein Einzugsgebiet wichtige Weichenstellungen vor: Zum einen wurde im Interesse der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Entwicklung eine internationale Rheinkommission begründet. Sie stellt zwar ein bemerkenswert frühes Beispiel der Schaffung permanenter zwischenstaatlicher Institutionen dar, ihr Wirken muss in Hinblick auf den Fluss aber ambivalent beurteilt werden: Zu sehr dominierten hier Ingenieure und ihre Vorstellungen von kanalisierten "gezähmten" Flüssen, zu wenig wurde der Fluss in seiner sozioökologischen Ganzheit in den Blick genommen. Ein weiteres Ergebnis der Wiener Verhandlungen erwies sich als folgenreich: Man erweiterte als Gegengewicht möglicher französischer Expansionsgelüste am Rhein den preußischen Besitz in der Region - mitsamt der rheinisch-westfälischen Kohlevorkommen - und legte so die Grundlagen für das Entstehen eines industriell-militärischen Komplexes in preußischer Hand, der sich noch als höchst problematisch erweisen sollte.
Neben geopolitischen Faktoren sind die Geomorphologie des Rheinbeckens und die hydrologische Ausstattung des Rheins dafür verantwortlich, dass ein Fluss, der weder an Länge noch an Wasservolumen eine weltweite Spitzenposition einnimmt, zu den meistfrequentierten Wasserstraßen gehört und eine beispiellose Ballung von Industrie an seinen Ufern aufweist. Die ganzjährige Schiffbarkeit, der Wasserreichtum (Wasser ist wichtiger Rohstoff vieler industrieller Prozesse, Kühlmittel und Entsorgungsmedium) und der durch die Pufferfunktion des Bodensees relativ konstante Wasserspiegel seien hier erwähnt.
Die ersten umfassenden Regulierungsmaßnahmen des frühen 19. Jahrhunderts waren mit dem Namen des badischen Wasserbauingenieurs Johann Gottfried Tulla (1770-1828) verbunden, der der Maxime folgte, dass jedem Flusslauf ein festes Flussbett genüge. Die Begradigung des Oberrheins, die vor allem im Interesse des Hochwasserschutzes vorgenommen wurde, verlagerte freilich die Überschwemmungsproblematik flussabwärts und stand im Konflikt mit den Ausbauinteressen Preußens, die sich stark an einer weitergehenden Schiffbarmachung orientierten. Noch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte mit der großtechnischen Erschließung der Stein- und Braunkohlevorkommen an Ruhr, Ville und Lippe (und ihren hydrologischen Konsequenzen) die Industrialisierung des Flusses und seines Einzugsbereiches ein. Wirtschaftliche Entwicklung und industrielle Expansion führten zu einer fortschreitenden Verschmutzung und ökologischen Degradation des Rheins - ein Prozess, der in den 1970er-Jahren seinen traurigen Höhepunkt erreichte. Die im wirtschaftlichen Interesse eingeforderten "geopferten Flussstrecken" wurden immer länger. Schließlich wurden ganze Flüsse wie der Niederrheinzufluss Emscher zu ökologisch toten Industriekloaken. Wasserwirtschaftliche Zusammenschlüsse und selbst Vereinigungen, die vordergründig die Reinhaltung und den Schutz von Gewässern auf ihre Fahnen schrieben, wie z. B. der "Verband zur Reinhaltung der Wupper", agierten als industriedominierte Interessenverbände, die lediglich die fortgesetzte industrielle Nutzung absichern sollten. Staatliche Instanzen akzeptierten dies und verhielten sich passiv bzw. agierten im Konfliktfall zugunsten der wirtschaftlichen Interessen. Trotz der Gründung einer internationalen Rheinschutzkommission im Jahre 1950 setzte auf politischer Ebene erst im späten 20. Jahrhundert ein Mentalitätswandel ein. Nun wurden ernsthafte und wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität ergriffen, Habitat-Restauration, die Wiedereinführung ausgestorbener Fauna und Überschwemmungsmanagement stehen auf der Agenda. Restaurationsökologie und die Wiederöffnung von Überflutungsgebieten stoßen dabei freilich an enge Grenzen. Industrialisierung, Urbanisierung und landwirtschaftliche Entwicklung haben zu viele Flächen, die einst Teil des dynamischen Flusssystems waren, dauerhaft vom Fluss abgetrennt. Auch die 'saubere' Elektrizität aus Wasserkraftwerken wird für die Wiederherstellung alter Zustände der Fischwanderung nicht zur Disposition gestellt.
Mark Ciocs vorwiegend auf publiziertem Material beruhende Studie überzeugt durch eine Argumentation, die politik- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungsstränge nie isoliert, sondern stets im Zusammenhang mit den jeweiligen geografisch-hydrologischen, biologischen und chemischen Rahmendaten diskutiert. Zahlreiche Diagramme steigern die Anschaulichkeit. William Cronon preist Ciocs Studie in seinem Vorwort als "first true environmental history of a major European river" (IX). Tatsächlich verdanken sich der US-amerikanischen Umweltgeschichtsschreibung, etwa Richard Whites Portrait des Columbia River als "Organic Machine" [2], Impulse, von denen zu wünschen ist, dass sie auch in der europäischen Umweltgeschichte weitere Forschungen anregen.
Anmerkungen:
[1] Ähnlich schon der Eindruck von Thomas M. Lekan: Review of Mark Cioc, The Rhine. An Eco-Biography, 1815-2000, in: H-German, H-Net Reviews, July 2003, URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.cgi?path=111591060380699.
[2] Richard White: The Organic Machine. The Remaking of the Columbia River, New York 1995.
Martin Knoll