Gudrun Piller: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 17), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, IX + 354 S., ISBN 978-3-412-05806-7, EUR 44,90
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Ein kleiner, fotografierter Textausschnitt aus einem Tagebuch ziert das Cover von Gudrun Pillers Studie. Am 3. Dezember 1783 hatte der 17-jährige Johann Rudolf Huber "u. da wars als wied. geschah ++ !! abscheulich !!" seinem Tagebuch anvertraut. Die Interpretation dieses selbstanklägerischen Halbsatzes findet sich auf Seite 191: Es handelt sich um eine verschämte Kodierung jugendlicher Onanie. Dass der spätere Geschichtsprofessor und Pfarrer Johann Rudolf Huber sein sündhaftes Verhalten - verschlüsselt zwar - aber doch festhielt, erklärt die Autorin mit (s)einer spezifisch bürgerlichen "Erziehung zum Körper" (158-203), in der das Tagebuch zum Medium der Selbstkontrolle wurde. Zu erlernen war der - nach bürgerlichen Vorstellungen - richtige Umgang mit Ernährung, Schlaf, Bewegung, Hygiene und Sexualität. Junge Männer und Frauen sollten sich unter der pädagogischen Aufsicht ihrer Eltern gesellschaftlich akzeptierte und geschlechtlich differenzierte Verhaltensnormen und Körperpraktiken aneignen.
Gudrun Piller, nunmehrige Vizedirektorin des Historischen Museums Basel, lenkt in ihrer als 17. Band der Reihe "Selbstzeugnisse der Neuzeit" erschienenen Dissertation den feministisch forschenden Blick auf bürgerliche Körperpraktiken. Obwohl ihre Arbeit im Rahmen des 1996 begonnenen und von Kaspar von Greyerz geleiteten Projekts "Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte" entstand, verlässt sie den engeren mentalitätshistorischen Pfad und versucht sich - durchaus erfolgreich - an einer gender-sensiblen Körpergeschichte des Bürgertums. Als Quellen dienten ihr insgesamt 48 nicht edierte Schweizer Selbstzeugnisse aus dem 18. Jahrhundert: Autobiographien, längere Lebensläufe, Tagebücher sowie Haus- und Familienbücher, die zu drei Vierteln aus dem städtischem Bürgertum von Basel und Zürich und ebenfalls zu drei Vierteln aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen. 40 der 48 Selbstzeugnisse wurden von Männern verfasst. Angesichts dieser formalen Disparität bildet daher kein spezifisches Textanalysekriterium, sondern das Verständnis des "Selbstzeugnisschreiben[s] als kulturelle Praxis" die methodische Klammer (3). Spannend für einen körpergeschichtlichen Zugang sind die bürgerlichen Selbstzeugnisse für die Autorin vor allem aus inhaltlichen Überlegungen: "Auf den Körper nahmen die Verfasserinnen und Verfasser von Selbstzeugnissen in unterschiedlicher Weise Bezug. Fundamentale körperliche Ereignisse wie Geburten, Krankheiten oder Todesfälle gehören zu den mitteilungs- und erinnerungsrelevanten Ereignissen und fanden damit Eingang in die Texte. Aber auch Fragen nach der richtigen Erziehung, der Pflege oder Gesunderhaltung, die alltäglichen Techniken und Praktiken des Körpers sind Gegenstand des Schreibens" (4).
Theoretisch inspiriert von Joan Wallach Scott, Judith Butler und Philipp Sarasin plädiert Gudrun Piller dafür, den scheinbaren Gegensatz von Erfahrung und Diskurs aufzulösen, die kulturelle und materielle Seite des Körperlichen vielmehr miteinander zu verbinden. "Auch das Schreiben über Geburt, Krankheit, Gewalt, Sterben und Tod, also über so genannte körperliche Primärerfahrungen, ist eingebettet in die Diskurse der Zeit, basiert auf dem Wissenshintergrund der Schreibenden, gehorcht den Regeln der gewählten Textsorte und folgt möglicherweise bestimmten Aussageabsichten" (13).
Die fünf Hauptkapitel des Buches kreisen im Wesentlichen um körperlich-wahrgenommene Indizien für Gesundheit, Krankheit und angemessenes oder gescheitertes bürgerliches Leben. Jedes Kapitel ist relativ abgeschlossen und für sich gut lesbar, was bei einer Gesamtlektüre des Buches zwangsläufig zu einer gewissen Redundanz führt. Gudrun Piller nimmt mit einer Ausnahme in jedem Kapitel zwei sorgsam ausgewählte "Leitquellen" genauer in den Blick, an denen sie eine zentrale Fragestellung abhandelt und mit ähnlichen oder auch abweichenden Befunden in der Forschungsliteratur vergleicht. So erklärt sie etwa das Verschweigen der ehelichen Sexualität in Selbstzeugnissen und das Nichterwähnen physischer Gewalt vor allem textsortenspezifisch. Diese bewussten Auslassungen kontrastiert sie mit der - ebenfalls quellenbedingten - ausführlichen Thematisierung nicht-ehelicher Sexualität und physischer Gewalt in Gerichtsquellen (85-87). SexualitätshistorikerInnen werden dennoch - zumindest was die "Ausbeute" an sexualitätsbezogenen Quellenzitaten angeht - eher enttäuscht sein. Die Onanietextstelle auf dem Cover als explizite, wenn auch kodierte Bezugnahme auf verbotene Sexualität weckt in dieser Hinsicht falsche Erwartungen. MedizinhistorikerInnen finden dagegen durchaus anregenden Diskussionsstoff: So erweist sich nach der nicht quantifizierbaren Einschätzung der Autorin das Risiko bei oder kurz nach der Geburt zu sterben - sowohl für die Mütter als auch die Kinder - im Quellensample als geringer als in der Forschungsliteratur meist angenommen (139-140). Ob es sich dabei vielleicht um ein städtisch-bürgerliches Spezifikum handelt, lässt Gudrun Piller allerdings offen. An anderer Stelle dekonstruiert sie die rückwirkende Diagnose von Krankheiten als fragwürdigen Versuch, da "die Zuordnung eines Namens zu einer Krankheit nicht die vorherrschende Form war, Krankheit sprachlich zu erfassen" (213). In einer mehrseitigen tabellarischen Auflistung (214-220) dokumentiert die Autorin Krankheitsbeschreibungen aus 20 Selbstzeugnissen. 70 % dieser Bezeichnungen lassen sich selbst mithilfe zweier medizinhistorischer Nachschlagewerke [1] nicht in eine moderne Krankheitsterminologie übersetzen (220).
Gudrun Pillers Buch enthält keine sensationellen Erkenntnisse. Dennoch kann es körper- und geschlechtergeschichtlich Interessierten zur Lektüre empfohlen werden. Reich an Quellenzitaten, die sensibel und methodisch reflektiert in den analytischen Kontext eingewoben werden, vermittelt die Autorin einen lebendigen, manchmal auch berührenden Eindruck vom bürgerlichen Stellenwert des eigenen Körpers. Ein reizvoller Nebeneffekt ergibt sich zudem aus der nicht geschlechterparitätischen Quellenauswahl: vor allem die vergleichsweise wenig untersuchte bürgerliche Selbstdressur des Männerkörpers kommt hier zur Sprache. Als benutzerInnenfreundlich soll schließlich noch die schematische Übersicht zu den herangezogenen Selbstzeugnissen im Anhang erwähnt werden (285-314). Je nach Überlieferungssituation werden Informationen zum Verfasser oder der Verfasserin, zur Textart, zum Inhalt, zum Verfassungszeitraum, zum zeitlichen Umfang, zum Archivstandort, zur Signatur und gegebenenfalls auch Literaturhinweise geliefert.
Anmerkung:
[1] Hermann Metzke: Lexikon der historischen Krankheitsbezeichnungen, Neustadt/Aisch 1994; Christoph Mörgeli / Hans Schulthess: Krankheitsnamen und Todesursachen in Zürcher Pfarrbüchern, in: Felix Richner / Christoph Mörgeli / Peter Aerne (Hg.): "Vom Luxus des Geistes". Festschrift für Bruno Schmid zum 60. Geburtstag, Zürich 1994, 165-183.
Susanne Hehenberger