Katherine Crawford: European Sexualities, 1400-1800 (= New Approaches to European History; Vol. 38), Cambridge: Cambridge University Press 2007, ix + 246 S., 12 fig., ISBN 978-0-521-83958-7, GBP 15,99
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Gute Überblicksdarstellungen zu schreiben ist schwierig. Katherine Crawford, Associate Professor am History Department der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, hat sich dieser Herausforderung gestellt und in der Reihe "New Approaches to European History" ein Buch über "europäische Sexualitäten" vom 15. bis ins 19. Jahrhundert vorgelegt. Die Buchreihe ist adressiert, so die Editionsnotiz, an "advanced school students and undergraduates", denen "concise but authoritative surveys of major themes and problems in European history since the Renaissance" vermittelt werden sollen.
Wie der Buchtitel indiziert, will Katherine Crawford über sexuelle Vielfalt schreiben. Sie geht davon aus, "that sexualities are multiple and created by human beings in social settings" (9) und intendiert, einem konservativen und verengten Sexualitätsverständnis entgegen zu wirken. Kontrastierend zur Ansicht ihrer gegenwärtigen US-Studentinnen und Studenten, dass Sex im Wesentlichen heterosexuelle Vaginalpenetration sei, führt sie ihre eigene Auffassung aus der Collegezeit in den 1980ern an: "all sexual contract [sic!] that included arousal to the point of sexual release and/or the exchange of bodiliy fluids 'counted' as sex." (9)
Das Buch ist in fünf Kapitel eingeteilt. Im ersten Kapitel zu Ehe und Familie kritisiert Katherine Crawford die von der älteren Forschung vertretene Idee, wonach die partnerschaftliche, auf gegenseitiger Zuneigung basierende Ehe sich erst um 1800 etabliert habe und hält dagegen, dass Emotionalität zwischen den Eheleuten auch schon zuvor geschätzt worden sei (13-15). Mithilfe demographischer und familiengeschichtlicher Studien umreißt sie die Problematik, dass die Ehe zwar generell als einzig legitimer Ort für Sexualität galt, aber keineswegs allen eine Eheschließung möglich war. Nicht nur armen Frauen und Männern war die Ehe verwehrt, sondern selbst in der englischen Elite blieb rund ein Viertel unverheiratet (24). Im Gegensatz zu Frauen stand unverheirateten Männern die Möglichkeit offen, ihre sexuellen Bedürfnisse mit Prostituierten auszuleben. Obwohl Prostitution kriminalisiert war, wurden Männer der oberen Schichten so gut wie nie dafür belangt (25).
Eng verknüpft mit der Ehe ist das im zweiten Kapitel umrissene Themenfeld Religion und Sexualität. Während in katholischer Tradition der Status der Jungfräulichkeit/Ehelosigkeit hohe Wertschätzung genoss, wurde der Ehestand mit der Reformation zur einzigen Option. Katherine Crawfords chronologisch strukturierte Erzählung reicht in diesem Kapitel bis in die Antike und ins frühe Christentum zurück (56-63). Nach Ausführungen zum Mittelalter und den nur in Nuancen unterschiedlichen Einstellungen zur Sexualität im Katholizismus, bei Lutheranern, Calvinisten und Anglikanern konstatiert sie schließlich einen allmählichen Bedeutungsverlust der Religion im 18. Jahrhundert, charakterisiert als "The waning of religious enthusiasm" (94).
Das dritte Kapitel, betitelt "The science of sex", widmet sich vor allem der Medizin. Nach einer kurzen Erläuterung des auf der Galen'schen Säftelehre (Humoralpathologie) beruhenden wissenschaftlichen Körperverständnisses in der Frühen Neuzeit (101-105) skizziert Katherine Crawford mit Blick auf Physiologie, Generativität und sexuell übertragbare Krankheiten drei wesentliche Veränderungen. Erstens habe sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein neues Körperverständnis und eine zunehmende Betonung der körperlichen Differenzen zwischen den Geschlechtern herausgebildet (105-111). Zweitens mache sich ein Wandel im Umgang mit Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und verschiedenen sexuellen Problemen bemerkbar. So seien etwa Schwangerschaft und Geburt immer mehr unter männliche Kontrolle geraten (128). Und drittens habe der lang anhaltende Misserfolg in der Behandlung venerischer Krankheiten sukzessive das Vertrauen in die Jahrhunderte lang vorherrschende Humoralpathologie untergraben (129-138).
Das vierte Kapitel befasst sich mit kriminalisierter Sexualität. Katherine Crawford benennt drei Veränderungen von 1400 bis 1800. Erstens habe das rechtliche Vorgehen gegen sexuelle Verfehlungen zu einer gesellschaftlichen Verfestigung der sexuellen Normen geführt (Sozialdisziplinierung). Zweitens seien aus "Sünden" allmählich "Verbrechen" geworden (Säkularisierung). Und drittens seien Frauen zunehmend schwerer und häufiger für sexuelle Delikte bestraft worden, ausgenommen Sodomie (146f.). Leider bleibt Katherine Crawford, abgesehen von der Erwähnung einer ungleichen Bestrafung im Falle des Ehebruchs (148), Belege für die geschlechtsspezifische Ahndungspraxis schuldig. Weder plausibel noch trennscharf erscheint ihre Kategorisierung der sexuellen Delikte. An der Frage orientiert, wer durch ein Delikt geschädigt bzw. welche Norm missachtet wird, unterscheidet sie Verbrechen gegen die Familie (Ehebruch, Bigamie, Vergewaltigung), Verbrechen gegen die Natur (gleichgeschlechtliche Praktiken, Bestialität und Infantizid), Verbrechen gegen die Gemeinschaft (Inzest, Unehelichkeit, Verleumdung, Prostitution) und Verbrechen gegen Gott (Blasphemie, Sex mit einer Nonne, einem Priester, einem "Ungläubigen" oder in einem Gotteshaus). Jeder der genannten Tatbestände könnte ohne argumentativen Notstand einer anderen Gruppe zugeordnet werden. Verstörend und in (gesamt)europäischer Perspektive sicherlich falsch ist ihre Bewertung der Vergewaltigung: "Sexual violence against an unmarried woman was a crime against the honor of her father; sexual assault against a married woman was a crime against her husband."(152)
Auch das fünfte Kapitel, "Deviancy and the cultures of sex", überzeugt nicht. Katherine Crawford will den Blick auf die "sexuell Anderen" lenken: "An assortment of sexual others from mollies to masturbators came to prominence in the early modern period" (190). Aufgegriffen werden dann hauptsächlich literarische und bildliche Präsentationen, von freizügiger Erotik der Renaissance bis zur französischen Pornographie des 18. Jahrhunderts. Untersuchungen über die Treffpunkte und geheimen Codes für gleichgeschlechtlich interessierte Männer in verschiedenen europäischen Städten führt Katherine Crawford als Hinweis für eine subkulturelle sexuelle Identitätsbildung an (200-206). Die historiographische Einordnung der genannten Studien unterbleibt, ein höheres Maß an Quellenkritik hätte diesem Kapitel gut getan.
Warum sorg(t)en sich Kirche, Staat und Medizin so sehr um die Sexualität, fragt Katherine Crawford abschließend. Ihre Antwort lautet "anxiety about sex was anxiety about procreation" (232). Sexualität habe immer auch mit Macht, Lust, sozialem Status, Allianzen, Intimität und Gefühlen zu tun, das Interesse sie zu kontrollieren sei deshalb immer groß gewesen (233).
Katherine Crawfords Überblick ist bemüht, aber nicht in jeder Hinsicht gelungen. Die am Ende der einzelnen Kapitel aufgelistete Literatur dokumentiert neben der Kenntnis der Autorin auch die Unausgewogenheit der Studie. Die am Zielpublikum orientierte Entscheidung, ausschließlich englischsprachige Literatur anzuführen geht mit einer räumlichen Konzentration auf West- und Südeuropa einher, Studien zu Mittel-, Ost- und Nordeuropa sind deutlich unterrepräsentiert. Anerkennung verdient immerhin ihr Bemühen, die Leserinnen und Leser für Geschlechterdifferenzen und (andere) Ungleichheiten zu sensibilisieren.
Susanne Hehenberger