Nur Sobers-Khan: Slaves Without Shackles. Forced Labour and Manumission in the Galata Court Registers, 1560-1572, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2014, 384 S., ISBN 978-3-87997-436-8, EUR 88,00
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In den Archiven der Länder, die einst zum Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reiches zählten, befindet sich unzähliges Quellenmaterial, dessen Stellenwert für die Erforschung der osmanischen Wirtschafts-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte als unbestritten gilt. Dabei handelt es sich um die şerīʿa sicil defterleri oder şerʿiyye sicilleri bzw. auch ḳāżī sicilleri [1] genannten Gerichtsregister, die Beschlüsse und Dokumente unterschiedlichen Charakters umfassen. Welch spannende Einblicke in die damalige osmanische Gesellschaft diese oft als trocken abgetanen Texte bieten können, zeigt Sobers-Khan in ihrer an der Cambridge Universität fertiggestellten Dissertation zum Thema Sklaverei im 16. Jahrhundert. Als Grundlage dienen ihr dabei drei der ersten vollständig erhaltenen Gerichtsregister des Istanbuler Stadtteils Galata, Zentrum für Handel und Seefahrerei und der Ort, an dem sich das Waffenarsenal und das höchste Richteramt des Imperiums befanden. In diesem historischen Kontext untersucht die Verfasserin die Rechtstexte, um der Forschung einen größeren Einblick in den Umgang mit Sklaven im Osmanischen Reich zu verschaffen. Ziel der Arbeit ist es dabei, herauszufinden, wie ehemalige Sklaven als freie Menschen in die osmanische Gesellschaft integriert wurden. Dabei katalogisiert Sobers-Khan in ihrer Dissertation Herkunft und Einsatzbereiche sowie Arten der Konversion und Freilassung der Sklaven. Vor allem möchte sie dabei folgenden Fragen nachgehen: Was geschah mit christlichen Gefangenen, die nach ihrer Freilassung nicht in ihre Heimat zurückkehrten? Wie wurden sie in die osmanische Gesellschaft integriert? Sind Sklaven konvertiert und wie wirkte sich dies auf ihre Rolle in der Gesellschaft aus?
Während Gerichtsdokumente grundsätzlich als Quelle zur Erforschung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschichte des Osmanischen Reiches dienen, gibt es bislang keine Untersuchungen zu ihrer textuellen Beschaffenheit. Sobers-Khan setzt daher in diesem Bereich einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit und geht der sprachlichen Struktur, der Anordnung von Abschnitten und dem Gebrauch bestimmter Terminologie nach, um eine "soziolinguistische Lesart" der Texte anzugehen (30). Dies ist bisher nur für arabische Gesetzestexte geschehen.
Die für die vorliegende Mikrostudie verwendeten Gerichtsregister von Galata (14/2, 14/3 und 14/4) enthalten unter anderem Nachlassinventare, Arbeitsverträge, Freilassungsurkunden und andere Einträge zu etwa 600 Sklaven und decken die Jahre 1560 bis 1572 ab. Daneben zieht die Autorin noch weitere Primärquellen wie auch zahlreiche Sekundärquellen heran, um die Komplexität der gesellschaftlichen Beziehungen in Istanbul Mitte des 16. Jahrhunderts anhand des Phänomens Sklaverei im Mittelmeerraum aufzuzeigen. Bisherige Studien zur Sklaverei im Osmanischen Reich haben sich vermehrt mit dem 19. Jahrhundert befasst,[2] während die Frühmoderne fast gänzlich unberücksichtigt blieb. [3] Die Frage nach einem möglichen kulturellen oder sprachlichen Einfluss der Sklaven im Osmanischen Reich im 16. Jahrhundert fehlt gänzlich.
Die Arbeit besteht aus sechs Kapiteln, die thematisch angeordnet sind. In Kapitel 1 folgt dem kurz gehaltenen historischen Hintergrund die Zusammenfassung der Kapitel, eine Übersicht über die Sekundärliteratur und die Erläuterung zur methodischen Vorgehensweise. In ihrer Einleitung spricht die Verfasserin die Problematik der Übernahme von Begrifflichkeiten, hinter denen sich bereits festgesetzte Konzepte verbergen, an. Obwohl die Begriffe Sklave und Herr durch die atlantische Sklaverei extrem aufgeladen sind, entscheidet sich die Autorin dennoch dazu, sie in ihrer Arbeit beizubehalten. Sie führt an, dass diese ungleichen und unterschiedlichen Beziehungen, die durch komplizierte psychologische Machtdynamiken auf beiden Seiten charakterisiert seien, terminologisch nicht wiedergegeben werden können. Sie vertraut darauf, dass der Leser dazu in der Lage ist, zu erkennen, dass nicht alle Sklaven machtlose Opfer und nicht alle Herren allmächtige, grausame Unterdrücker waren (43). Ebenfalls verweist sie auf die Schwierigkeit der Konzeptualisierung der verschiedenen Formen von Sklaverei im Osmanischen Reich aufgrund ihrer Vielzahl. Des Weiteren argumentiert sie, dass a) die Osmanische Sklaverei-Forschung es nicht mehr nötig habe, zu erklären, dass sie sich von der atlantischen Sklaverei unterscheidet; b) amerikanische Plantagensklaverei die Ausnahme der Regel innerhalb der weltweiten Sklavereipraktiken darstelle und daher nicht als Vergleichsbasis genommen werden solle und c) kritisiert sie den Ansatz, Sklaven im Osmanischen Reich aufgrund ihres politischen oder wirtschaftlichen Einflusses nicht als Sklaven zu bezeichnen oder zu sehen, nur weil sie nicht dem geläufigen Sklavenbild entsprechen (45). Trotz dieser durchaus berechtigten Einwände vonseiten der Autorin bleibt zu überlegen, ob es nicht doch sinnvoll wäre, die dominierenden Sklavereibegriffe aufgrund ihrer starken Konnotation zu hinterfragen und gegebenenfalls durch andere Termini zu ersetzen.
Im zweiten Kapitel stellt die Verfasserin ausführlich das im Fokus ihrer Arbeit stehende Quellenkorpus, bestehend aus den drei besagten Gerichtsregistern, dar. Dabei geht sie sowohl auf den Inhalt der Texte als auch auf den Gebrauch der Sprache in den Gerichtsdokumenten ein. Aufgrund der in den Dokumenten verwendeten "hybriden arabisch-osmanischen Rechtssprache" (54) geht Sobers-Khan davon aus, dass die Verfasser von Rechtstexten im Istanbul des 16. Jahrhunderts der bis dahin vorherrschenden arabischen Rechtssprache Formulierungen aus dem Osmanischen hinzugefügt, diese ins Arabische übersetzt oder aber arabische Formulierungen mit osmanischen Termini kombiniert haben. Den noch häufigen Gebrauch des Arabischen wertet die Autorin als Indiz für einen Entwicklungsprozess von Rechtstexten und -terminologie im Osmanischen Reich der frühen Neuzeit. Spätere Gerichtsregister weisen eine "osmanische" Rechtssprache auf, die durch türkische Syntax und arabische und persische Terminologie gekennzeichnet ist. Das Kapitel umfasst zudem eine Typologie der Arten der Freilassung, von denen es nach islamischem Recht vier gibt: ʿitq/iʿtāq bezeichnet eine umgehende Freilassung des Gefangenen, die im Unterschied zu den anderen Formen ohne Einschränkungen erfolgt und als fromme Tat gilt. Sie erscheint am häufigsten in den drei untersuchten Gerichtsregistern. Die zweite Art wird als kitāba bzw. mukātaba bezeichnet und verspricht dem Sklaven nach Entrichtung einer vorher vereinbarten Summe Freiheit. Eine andere Form der Freilassungsurkunde wurde tadbīr genannt. Diese Vereinbarung garantierte dem Sklaven, dass er nach dem Tod seines Herrn nicht zu dessen Nachlass gezählt, sondern freigelassen wurde. Dasselbe galt für eine Sklavin, die nach der als umm walad bezeichneten Regelung nach dem Tod ihres Herrn automatisch freigelassen wurde, wenn sie ein Kind mit dem Selbigen zur Welt gebracht hatte.
Im dritten Kapitel wird der Frage nach der Herkunft der Sklaven, ihrer Gefangennahme und eventuellen Konversion zum Islam nachgegangen. Zudem wird die in den Texten für eine Klassifizierung der Sklaven verwendete Terminologie analysiert. Dafür zieht die Autorin noch weitere zeitgenössische Literatur heran und kommt schließlich zu der Ansicht, dass anhand der Beschreibungen bestimmte Charakteristika der Sklaven mit überliefert wurden. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen der Herkunft, der Art der Freilassung und der Konversionsrate. Das Kapitel schließt mit einer Reihe von detailreichen Graphiken und Tabellen, die Herkunft, Geschlecht, Religion und Art der Freilassung veranschaulichen. Sie basieren auf einer gründlichen Untersuchung der Quellen und können, wie von der Autorin beabsichtigt, zur weiteren Forschung als Grundlage genutzt werden.
Das folgende Kapitel befasst sich mit der Rolle der Arbeitersklaven in Galata, die sich durch mukātaba-Verträge nach einer bestimmten Zeit freikaufen konnten. Die in den Registern genannten Sklaven waren mehrheitlich qualifizierte Handwerker, die im Marinearsenal beschäftigt und somit Bestandteil der maritimen Wirtschaft waren. Dabei schien weder Herkunft noch religiöse Zugehörigkeit eine Rolle gespielt zu haben. Viele der Sklaven blieben nach ihrer Freilassung in Istanbul, weshalb die Zeit der Gefangenschaft als eine Art Karriereweg angesehen werden könnte, so Sobers-Khan. Diese Form der Sklaverei bezeichnet die Autorin als eine Art der Zwangsmigration in der frühneuzeitlichen Mittel- und Schwarzmeerregion. Wie schon beim vorangegangenen Kapitel folgen diesem ebenfalls zahlreiche Tabellen und Graphiken, die die Einzelheiten der mukātaba-Verträge nach Quelle, Preis, Datum und weiteren Informationen wie Bezeichnung, Name, Herkunft, Religion und äußeren Merkmalen kategorisieren.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Sprache und Terminologie der Freilassungsurkunden und stellt heraus, dass die Bezeichnungen für Aussehen, Herkunft und Religion der Sklaven nicht willkürlich gewählt wurden, sondern auf eine lange Sprach- und Rechtsgeschichte zurückblicken. Die Bezeichnungen stellen die Beziehung zwischen Sklave und Sklavenhalter in der osmanischen Gesellschaft dar. Die semantische und pragmatische Untersuchung der Freilassungsurkunden macht deutlich, dass freigelassene Sklaven in gesellschaftliche Strukturen entlassen wurden, die eine Verbesserung ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung ermöglichten. Die Namensgebung und die Beschreibung der körperlichen Erkennungsmerkmale der Sklaven (ḥilya) folgten arabischen Mustern, die in älteren Rechtsverträgen (shurūṭ) verwendet worden seien, stellt Sobers-Khan fest. Diese Darstellungen dienten dazu, die Person leichter zu identifizieren und dadurch geflohene Sklaven zu ergreifen und eine erneute Gefangennahme freigelassener Sklaven zu vermeiden. Darüber hinaus, so argumentiert die Autorin, hätten sowohl die Verfasser der Dokumente als auch die Sklavenhalter aus diesen Texten die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten der beschriebenen Person herauslesen können.
Im abschließenden Kapitel fasst Sobers-Khan ihre Ergebnisse zusammen und kommt zu dem Schluss, dass Sklaverei im Istanbul des 16. Jahrhunderts ein vorübergehender Status war und, wenn auch unbeabsichtigt, von außerhalb kommenden qualifizierten Personen die Möglichkeit bot, sich in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Netzwerk Istanbuls zu integrieren.
Bei der hier besprochenen Arbeit haben wir es mit einer fundierten Mikrostudie zu tun, die Einblicke in die gesellschaftliche Struktur Istanbuls Mitte des 16. Jahrhunderts bietet. Die Verfasserin zeichnet die Rolle der Sklaven in der maritimen Wirtschaft von Galata nach und stellt dar, wie Sklaven, die nach ihrer Freilassung in Istanbul blieben, in der Literatur erfasst worden sind. Die Studie basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus bestehend aus bisher in der Forschung gänzlich bzw. unter diesem thematischen Schwerpunkt unberücksichtigten Primärquellen und bietet einen umfassenden Überblick über die bereits bestehende Literatur. Sobers-Kahns Arbeit liefert somit nicht nur einen wertvollen Beitrag zur weltweiten Sklavenforschung im Allgemeinen und zur Sklaverei im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts im Speziellen, sondern sie kann zugleich als Grundlage zur weiteren Forschung in diesem Bereich angesehen werden.
Anmerkungen:
[1] Die Schreibweise der folgenden transliterierten Begriffe wurde dem hier besprochenen Werk entnommen.
[2] Siehe vor allem: Madeline Zilfi: Women and Slavery in the Late Ottoman Empire: The Design of Difference, Cambridge 2010; Hakan Erdem: Slavery in the Ottoman Empire and Its Demise, 1800-1909, New York 1996; Ehud Toledano: Slavery and Abolition in the Ottoman Middle East, Seattle 1998; ders.: The Ottoman Slave Trade and Its Suppression: 1840-1890, Princeton 1982.
[3] Nur einzelne Kurzstudien haben sich bisher mit der Frühmoderne befasst. Siehe beispielsweise Madeline Zilfi: Ottoman Slavery and Female Slaves in the Early modern Era, in: Kemal Çiçek et al., Ankara 2000, 114-118; Halil Sahillioğlu: Slaves in the Social and Economic Life of Bursa in the Late 15th and Early 16th Centuries, in: Turcica. Revue D'Études Turques, Tome XVII (1985), 43-112.
Veruschka Wagner