Monique Goullet / Martin Heinzelmann: Miracles, Vies et Réécritures dans l'Occident Médiéval. Actes de l'atelier "La réécriture des Miracles" (IHAP, juin 2004) et SHG X-XII: dossiers des saints de Metz et Laon et de saint Saturnin de Toulose (= Beihefte der Francia; Bd. 65), Ostfildern: Thorbecke 2006, 414 S., ISBN 978-3-7995-7460-0, EUR 69,00
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Monique Goullet: Corpus Christianorum: Hagiographies VII, Turnhout: Brepols 2017
Monique Goullet: Corpus Christianorum: Hagiographies VI. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, Turnhout: Brepols 2014
Monique Goullet / Sandra Isetta: Le Légendier de Turin. Ms. D.V.3 de la Bibliotheque Nationale Universitaire, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2014
Das wissenschaftliche Interesse an dem Phänomen der hagiographischen Réécriture ist in den letzten Jahren merklich gestiegen. Beispielhaft stehen dafür die drei Kolloquien, die am Deutschen Historischen Institut Paris seit dem Jahr 2000 organisiert wurden. Lag der Schwerpunkt zunächst auf der Réécriture von Heiligenleben [1], widmete sich die zweite Tagung, deren Ergebnisse in diesem Band vorliegen, der Réécriture von Wundern als Bestandteil von Heiligenviten oder als eigenständige Wundersammlungen. Einhergehend mit dieser Erweiterung des bisherigen Forschungsgegenstandes ging es auch darum, die an den Viten erprobte Methode zu schärfen und die gewonnenen Ergebnisse und zu ergänzen.
Der methodische Leitfaden ist die von dem französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette entwickelte Typologie der Hypertextualität. [2] Ihre konsequente Anwendung auf die Heiligenbiographien machte vor allem zwei Überarbeitungsmechanismen deutlich: Zunächst sind dies formale Aspekte wie etwa die stilistische Anpassung an den jeweiligen Rezipienten und strukturelle oder quantitative Veränderungen. Ferner rücken aber auch semantische oder ideologische Motive in den Vordergrund, die jedoch nur schwer zu greifen sind, da die Autoren in den Vitenprologen ihre eigene Arbeitsweise zumeist als einen rein rhetorischen Akt beschreiben. Eine gewisse Skepsis seitens der Herausgeber, inwieweit sich solche Veränderungen auch in der Réécriture von Wundern wiederfinden lassen, deren genrespezifische Erzählstruktur ohnehin recht gleichförmig und invariabel ist, war also angebracht.
Schon ein flüchtiger Blick in das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht die besonderen Stärken der fünf in diesem Band versammelten Beiträge. Diese liegen einerseits in der zeitlichen Verteilung der Einzelstudien. Im Ganzen wird eine Spanne vom 10. bis zum 14. Jahrhundert abgedeckt, wobei drei Untersuchungen den Fokus auf das 12. Jahrhundert richten. Andererseits ist die relativ weite geographische Streuung positiv anzumerken. So führt Jeroen Deploiges breit angelegte Studie, deren Basis ein Gesamtcorpus von 497 narrativen hagiographischen Texten bildet, in den südniederländischen Raum. Große Aufmerksamkeit verdient dabei seine quantitative Quellenauswertung, die aufzeigt, wie groß der Anteil von Wundern und ihrer Réécriture am hagiographischen Schrifttum insgesamt war. Weitere derartige Regionalstudien wären sicherlich wünschenswert. Karin Fuchs behandelt Marienwundersammlungen aus England und Nordfrankreich. Einen interessanten Sonderfall stellt der Beitrag Alain Boureaus dar, der am Beispiel der Wunderréécriture in der Historia Scholastica Petrus Comestors den Rahmen hagiographischer Schriften überschreitet. Die Untersuchungen zum Dossier des heiligen Rosendo von Celanova von Klaus Herbers und zur abbreviatio maior des heiligen Nicolaus von Tolentino von Didier Lett setzen mit Spanien und Italien den geographischen Schlusspunkt.
Trotz der unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Ausrichtung der Beiträge können die einzelnen Ergebnisse vornehmlich aufgrund des einheitlichen methodischen Vorgehens zusammenfassend präsentiert werden, ohne dabei auf die konkreten historischen Kontexte eingehen zu müssen. Die Réécriture von Wundern weist zwei entgegengesetzte Grundtendenzen auf. Die eine lässt sich als eine Enthistorisierung des Wunderberichts beschreiben. Die konkreten Angaben der Vorlagen über Ort und Zeit des Wunders sowie die namentliche Erwähnung von Zeugen oder anderen am Wunder beteiligten Personen werden ausgespart. Auch sozial ordnende Kategorien wie Berufs- (mercator, medicus) oder Standesbezeichnungen (miles) können in der Überarbeitung ausgelassen werden. Das Wunder verliert so seine Verankerung in Raum und Zeit und erhält universellen Charakter. Doch gibt es auch die genaue Gegenbewegung einer Rekontextualisierung. Der Ort des Wundergeschehens kann so indirekt zum Mittel der Absicherung gegen fremde Besitzansprüche werden oder die Ausdehnung des Kultes dokumentieren. Daneben können die Wunder vor dem Hintergrund aktueller theologischer Kontroversen kommentiert werden. Abschließend lassen sich auch Versifikationen, Prosifikationen, Übersetzungen und stilistisch motivierte Überarbeitungen nachweisen, auch wenn letztere im Vergleich zur biographischen Réécriture eher selten sind. Lässt sich somit eine große Ähnlichkeit von Mirakel- und Vitenréécriture attestieren, gibt es dennoch einen wesentlichen Unterschied: die Kontinuität. Im Gegensatz zu den zeitlich abgeschlossenen Heiligenleben wurden Wunderberichte je nach Bedarf fortgeschrieben. Dies konnte notwendig werden, wenn am Verehrungsort neue Wunder geschahen oder der Heilige während einer Translation seine Wundermacht unter Beweis stellte.
Im zweiten Teil dieses Bandes stehen die für Philologen und Historiker gleichermaßen wertvollen Arbeiten des von François Dolbeau, Martin Heinzelmann und Joseph-Claude Poulin ins Leben gerufenen SHG-Forschungsprojektes (Les sources hagiographiques narratives composées en Gaule avant l'an mil) im Mittelpunkt. In jeweils drei Abschnitten zu den überlieferten Handschriften, bisherigen Editionen und einem folgenden kritischen Kommentar werden dort die Dossiers von insgesamt 16 Heiligen aus den Diözesen Metz, Laon und Toulouse besprochen.
Die gelungene Auswahl der Beiträge macht deutlich, dass es sich bei der Mirakelréécriture keinesfalls um ein Rand- oder lokal eingrenzbares Phänomen, sondern vielmehr um eine Konstante der mittelalterlichen Hagiographie handelt. Begreift man diese neuen Texte als ein historisches Dokument ihrer Entstehungszeit, erschließt sich erst ihre thematische Vielseitigkeit, die die Erforschung der Réécriture, wie sie in diesem Band exemplarisch vorgeführt wurde, zu einem spannenden und fruchtbaren Forschungsfeld macht.
Anmerkungen:
[1] Monique Goullet / Martin Heinzelmann (Hg.): La réécriture hagiographique dans l'Occident médiéval. Transformations formelles et idéologiques, (= Beihefte der Francia; Bd. 58), Ostfildern 2003.
[2] Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982. Dt. Erstausgabe: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993.
Daniel Nuß