Rezension über:

Michèle Gaillard / Monique Goullet (éds.): Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550. International History of the Latin and Vernacular Hagiographical Literature in the West from its Origins to 1550 (= Corpus Christianorum. Hagiographies; VIII), Turnhout: Brepols 2020, 789 S., eine Farbabb., ISBN 978-2-503-58912-1, EUR 295,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Michèle Gaillard / Monique Goullet (éds.): Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550. International History of the Latin and Vernacular Hagiographical Literature in the West from its Origins to 1550, Turnhout: Brepols 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 1 [15.01.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/01/36193.html


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Michèle Gaillard / Monique Goullet (éds.): Hagiographies

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Die Histoire internationale de la littérature hagiographique, latine et vernaculaire, so der Langtitel der Hagiographies, tritt mit dem achten Band in die Endphase ein. Der erste, noch von Guy Philippart verantwortete Band erschien 1994. Es brauchte etwa Zeit, bis sich innerhalb der Mediävistik die Erkenntnis durchsetzen konnte, dass damit der Startschuss für ein Unternehmen gegeben war, das Maßstäbe setzen und zum unverzichtbaren Referenzwerk aufsteigen sollte. Nicht - wie bei so vielen anderen Publikationen der Fall - die Heiligen oder ihr Kult stehen hier im Zentrum des Interesses, sondern die Hagiographen selbst und ihre Werke. Konzipiert wurde das Ganze als Vorarbeit für eine (in absehbarer Zukunft) zu schreibende Darstellung über hagiographische Quellen in der Reihe der Typologie des sources du Moyen Âge occidental.

Um die jeweiligen Bearbeiter nicht unter der Last des Materials zusammenbrechen zu lassen, wurden beherrschbare zeitliche und geographische Einheiten geschaffen - ein pragmatischer Zugriff auf die Quellenmassen, dem Wunsch geschuldet, Informationen vergleichsweise zeitnah zur Verfügung zu stellen. Damit verbunden war und ist freilich ein Nachteil: Einzelne geographische Räume finden sich nun in einer Vielzahl von Bänden behandelt. Nur ein Beispiel: Frankreich nimmt im vorliegenden achten Band den mit Abstand meisten Raum ein. Einige Positionen, von Chartres über Meaux bis hin zum romanischen Teil der Kölner Kirchenprovinz, sind noch offen und dürften wohl im neunten (abschließenden?) Band Behandlung finden.

Den französischen Raum verlassen aber zunächst Marianna Cerno und Maddalena Betti mit ihren einleitenden profunden Ausführungen zur lateinischen Hagiographie aus Böhmen und Mähren (15-139). Zunächst stecken beide den geographisch-historischen Rahmen ab. Deutlich wird dabei, welche Rolle die Hagiographie innerhalb von Identitätsbildungsprozessen spielte. Am Beginn der Hagiographieproduktion in lateinischer Sprache um 970 standen Ludmilla († 921) und ihr Enkel Wenzel († 935). Von großer Bedeutung war zunächst auch die Verehrung des Benediktiners und zweiten Bischofs von Prag Adalbert († 997) und diejenige des Prokop († 1053), des einzigen böhmischen Heiligen, dessen hagiographisches Schrifttum in Gänze ediert vorliegt. Mendikantische Heilige sind in Gestalt der Agnes († 1282) und der Zdislava († 1252) präsent. Der böhmische Heiligenhimmel wuchs infolge der Verlagerung unzähliger Reliquien durch Karl IV., darunter diejenigen des burgundischen Königs und Märtyrers Sigismund oder des Patrons der Goldschmiede Eligius. Die hussitische Bewegung mit ihrer spezifischen Form der Heiligenverehrung setzte weniger auf landfremde Heilige wie Sigismund, sondern auf "nationale" Gestalten wie den Hl. Wenzel und natürlich auf die Märtyrer der Bewegung wie Jan Hus und Hieronymus von Prag. Auch aktuelle Forschungskontroversen wie diejenige um den Kult der Hl. Milada (Mlada, Maria), einer um 1000 verstorbenen Benediktineräbtissin, werden diskutiert (98-99). Schriften zu bekannten Heiligenpersönlichkeiten wie etwa dem Hl. Wenzel oder dem Hl. Johannes Nepomuk reihen sich neben unbekannte Texte zu Märtyrern und Bekennern wie dem Hl. Ivanus oder dem Hl. Gunther ein. Bibliographien, die sich an die einzelnen Kapitel anschließen, spiegeln den aktuellen Stand der internationalen (und somit vielsprachigen) Forschung wider.

Auch eher Kurioses findet sich: so etwa die beiden in einer Prager Handschrift (Praha, Národní Knihovna, III.E.27) überlieferten hagiographischen Parodien, die Passio raptorum de Slapanicz secundum Bartoss tortorem Brunensem und der Sermo de sancto Nemine. Immer wieder erweist sich die enge Verwandtschaft von hagiographischen Schriften und Predigten - nicht nur im Fall des Johannes Hus. Dieser Konnex findet sich in vielen weiteren Beiträgen erwähnt, so etwa in den Alcuin oder der hagiographischen Produktion in der Bretagne gewidmeten (vgl. 164; 202).

Drei Viertel des vorliegenden Bandes widmen sich der hagiographischen Produktion innerhalb der Gallia während der Zeit der Karolinger (c. 750-950), von der Bretagne bis nach Besançon, von der Nordseeküste bis ins Rhonetal. Als Gliederungselemente fungieren dabei die Grenzen der Kirchenprovinzen bzw. der einzelnen Bistümer. Einzige Ausnahme ist das hagiographische Oeuvre Alcuins, das in seiner Gesamtheit autorzentriert in den Blick genommen wird (145-184). Joseph-Claude Poulin befragt die erschienene und ausgewertete Sekundärliteratur und die darin formulierten Hypothesen regelmäßig auf ihre Tragfähigkeit und schlägt so nützliche Schneisen in das Dickicht der Alcuin-Forschung. Untersucht werden von ihm nicht nur die bekannten Viten wie diejenigen der Hll. Willibrord, Vaast oder Martin, sondern auch Gedichte und liturgische Texte, die von Alcuins Praxis eines massiven "auto-remploi" (164) zeugen - ein Element, das noch weitergehender Forschungen bedarf. Alcuin verfasste seine Schriften als Auftragswerke und reiht sich so in den "cercle des hagiographes professionnels de son époque" (166) ein.

Poulin ist auch für den der hagiographischen Produktion in der Bretagne (Kirchenprovinz Tours) gewidmeten Abschnitt verantwortlich (189-242). Im behandelten Zeitraum (vor 1000) präsentiert sich die Geschichte der Heiligkeit in der Bretagne als ausschließlich männlich. Sie ist nicht missionarisch, sondern eher eremitisch motiviert und weist zumindest mit Blick auf den Heiligenbestand (nicht auf die hagiographischen Traditionen selbst) enge Verbindungen zu den britischen Inseln auf. Wunder post mortem stehen ebenso wenig im Fokus der anonymen Verfasser wie die Beschreibung von Reliquientranslationen (mit der Vita Samsonis als ältestem und einflussreichstem Text an der Spitze).

In vielen Beiträgen ist es der monastische Einfluss auf die hagiographische Produktion, dem besondere Beachtung geschenkt wird, so etwa im Falle Rouens, wo mit den Klöstern Fontenelle und Jumièges leistungsstarke Skriptorien existierten (Lucile Trân Duc, 259-286) oder im Falle von Reims, wo Klöster wie Saint-Remi oder Saint-Thierry hagiographische Aktivitäten bündelten (Marie-Céline Isaïa, 315-365).

Häufiger präsentierte sich die hagiographische Produktion frei von Gegenwartsbezügen. Im Bistum Noyon orientierte man sich lange an den Heiligen der Merowingerzeit, deren Viten Gegenstand multipler réécritures wurden, wie Paul Chaffenet und Michèle Gaillard überzeugend darlegen (367-378). Dieser Bezugsrahmen spielte auch im Bistum Beauvais eine große Rolle, worauf Charles Mériaux hinweist (389-408). Zeitlich verlässt Fernand Peloux in seiner Analyse der Hagiographien in Amiens den vorherrschenden zeitlichen Rahmen und dehnt seine Ausführungen bis ins 12. Jahrhundert hin aus, bis zur Zeit der Kloster- und Kanonikerreform. Hochinteressantes findet sich so mit Blick auf das Zisterzienserkloster Paraclet (439-442). Klaus Krönert verdanken sich profunde Ausführungen zur hagiographischen Aktivität in Paris während der Karolingerzeit (515-590) - eine Aktivität, die sich vor allem in Klöstern wie Saint-Germain-des-Prés und Sainte-Geneviève vollzog.

Als eine Art Anhängsel finden sich einige Ergänzungsbeiträge zur (bereits in den Bänden II und IV abgehandelten) Germania, vor allem zu den Diözesen Köln und Trier. Mit Blick auf Straßburg findet sich der einzige während der Karolingerzeit im Bistum entstandene Text, die Vita der Hl. Ottilie (S. Odile).

Der achte Band der Hagiographies steht seinen Vorgängern sowohl in Quantität als auch in Qualität in nichts nach. In jedem Artikel (stets beschlossen von einer umfangreichen Bibliographie) werden auf der Grundlage der aktuellen Forschung Quellen und ihre Autoren beschrieben, analysiert und im jeweiligen historisch-sozialen Kontext verortet. Die Stellung als das mediävistische Standardwerk zu hagiographischen Fragen dürfte den Hagiographies wohl niemand mehr streitig machen. Nicht nur der überschaubare Kreis der Hagiographieexperten, sondern darüber hinaus jeder, der sich mit Kirchen- und Kulturgeschichte des Mittelalters beschäftigt, wird großen Gewinn aus der Lektüre der einzelnen Beiträge ziehen. Ein großartiges Werk.

Ralf Lützelschwab