Rezension über:

Piotr Szlanta: Die deutsche Persienpolitik und die russisch-britische Rivalität 1906-1914 (= Bonner Islamstudien; Bd. 9), Schenefeld: EB-Verlag 2006, 274 S., ISBN 978-3-936912-18-0, EUR 24,80
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Rezension von:
Nader Purnaqcheband
Institut für Orientalistik, Arabistik und Islamwissenschaft, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Nader Purnaqcheband: Rezension von: Piotr Szlanta: Die deutsche Persienpolitik und die russisch-britische Rivalität 1906-1914, Schenefeld: EB-Verlag 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/14045.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 12

Piotr Szlanta: Die deutsche Persienpolitik und die russisch-britische Rivalität 1906-1914

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Gerade im Bereich der Imperialismusforschung können in erster Linie thematisch eingegrenzte Fallstudien im allgemeinen Kontext formulierte Metatheorien korrigieren oder auch in Frage stellen. Die polnische Fassung der vorliegenden Arbeit wurde 2003 im Fachbereich Geschichte der Universität Warschau als Dissertation eingereicht und konnte zeigen, dass die sorgfältige Auswertung von Archivmaterialien Ergebnisse zutage fördert, die gängige Hypothesen bezüglich der deutschen Asienpolitik in der Ära Wilhelm II. vor der Entfesselung des Ersten Weltkriegs erschüttern können.

Die Orientierung innerhalb der akribischen Arbeit Szlantas wird durch fehlenden Index und aufgrund eines nur kursorischen Inhaltsverzeichnisses, in dem die Unterkapitel nicht aufgeführt sind, beeinträchtigt. Gleichfalls wäre es wünschenswert gewesen, wenn in der Übersetzung die polnische Umschrift persischer Namen auch eingedeutscht worden wäre (so etwa "Chabahar" statt "Czabahar").

Szlanta räumt ein, dass er primäres persischsprachiges Material aufgrund der "Sprachbarriere unberücksichtigt" (9) lässt. Bei der Beschreibung der innenpolitischen Situation in Persien vornehmlich während der Konstitutionellen Revolution (1906-1911), stützt er sich somit notgedrungen auf Sekundärmaterial. Dies hat nicht näher explizierte Begriffe wie "jungpersische Revolution" (45, 51 ff.) oder "Jungperser" (13) als missverständliche Entlehnungen aus anderen Kontexten zur Folge.

Die Arbeit beleuchtet die Politik der drei Großmächte Russland, Großbritannien und Deutsches Reich im Zeitraum von der Konstitutionellen Revolution 1906 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Gleichfalls wird im ersten Kapitel (15-45) der Wettstreit dieser Nationen um Einfluss innerhalb Persiens im 19. Jh. nachgezeichnet. So bildete der Qāǧārenstaat geopolitisch geradezu die Schnittstelle der russischen und britischen Expansions- bzw. Konsolidierungspolitik, die hier aufeinandertrafen. Persien war der exemplarische Fall eines asiatischen Staatswesens, das trotz empfindlicher Niederlagen (1813, 1828, 1857) offiziell souverän blieb, da die russisch-britische Balance es keinem der Akteure erlaubte, seine Machtposition uneingeschränkt auszuweiten (16 f.).

Szlanta bewertet die russische Politik nichtsdestotrotz als skrupellos. So vergab die 1891 eröffnete Niederlassung der russischen Staatsbank in Teheran großzügige Kredite an Mitglieder der iranischen Elite, womit Russland auf die persische Führungsschicht direkten Einfluss ausüben konnte. In diesem Rahmen sind auch wirtschaftspolitische Maßnahmen zu sehen, welche den Norden Irans, vornehmlich die Provinz Āẕarbāyǧān in die ökonomische Abhängigkeit Russlands zwangen.

Die Deutschen dagegen verhielten sich nach der Reichsgründung gegenüber Persien eher zurückhaltend, um keine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland zu riskieren, zumal die bilateralen Beziehungen während der Bismarckzeit entspannt waren. Das Desinteresse an Persien wandelte sich auch nicht, als mit dem Ausscheiden Bismarcks 1890 ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik hin zu einer "Weltpolitik" eingetreten war. Initiativen zur Ermunterung deutschen Engagements (Vergabe von Konzessionen) gingen vielmehr von Persien aus, stießen aber weitgehend auf Indifferenz beim Deutschen Reich.

Diese Haltung änderte sich im untersuchten Zeitraum nicht. Politischen Interventionen, sogar wenn sie von persischer Seite selbst angeregt worden waren, stand man ablehnend gegenüber. Persien wurde ausschließlich aus dem Blickwinkel (begrenzter) ökonomischer Interessen betrachtet. Das deutsche Augenmerk im Vorderen Orient richtete sich einzig auf die Sicherung der im Bau befindlichen Bagdadbahn auf dem Territorium des verbündeten Osmanischen Reiches (41), so dass auch Versuche panislamischer Türken scheiterten, Wilhelm II. als "Beschützer der Musulmanen" in die Pflicht zu nehmen (89 f.). Dabei wurden auch in Persien Stimmen laut, welche den Kaiser als "wahren Beschützer des Islam" gegen Russen und Briten um Hilfe baten (128).

Während das Deutsche Reich die russisch-britische Dominanz in Persien anerkannt hatte, torpedierte es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zaghafte Versuche Frankreichs, sich als dritte Macht in Persien zu etablieren (98-102). Dies muss als Folge der offenen Feindschaft der beiden Mächte seit 1870 und vor dem Hintergrund der expliziten Nicht-Anerkennung der Entente durch das Reich gesehen werden.

Eine wichtige Rolle innerhalb des komplexen Geflechts diplomatischer Interaktionen spielt das Abkommen über die Konkretisierung der Interessenssphären in Persien durch Großbritannien und Russland 1907. Nach der demütigenden Niederlage gegen Japan zeigte sich Russland bereit, mit Großbritannien zu einer Verständigung über Persien zu gelangen und die Expansionsidee hin zum Persischen Golf vorerst aufzugeben. Die Fortschritte beim Bau der Bagdadbahn verstärkten zudem auf beiden Seiten die Befürchtung eines wachsenden deutschen Einflusses in der Region. In diesem Vertrag, der Russland die nördliche Hälfte Persiens und Großbritannien das südöstliche, an das indische Kolonialreich angrenzende Viertel als Interessenszone zusprach, wurde "die Phase der offenen Rivalitäten beendet" (58).

Im Rahmen der Potsdamer Übereinkunft von 1911, in der die Russen den Bau der Bagdadbahn sanktionierten und das Prinzip der "offenen Tür" bejahten, stellten die Deutschen jegliche Bemühungen um Eisenbahnkonzessionen in der russischen Interessenssphäre ein und

kannten somit explizit die russische Dominanz in Nordpersien an (141). Gestärkt durch das Abkommen intensivierte Russland seine Strategie der systematischen Aneignung nordpersischen Territoriums. So wurden nach Landkäufen russische Bauern ermuntert, sich in Āẕarbāyǧān niederzulassen. Schätzungen zufolge sei bereits um 1914 ein Drittel dieser Provinz in russischer Hand gewesen (163).

Ungeachtet der zurückhaltenden Politik des Deutschen Reiches und seines Verzichts auf Ausnutzung der strukturell vorgegebenen Spannungsfelder zwischen Großbritannien und Russland wurde das Deutsche Reich in der russischen Presse beschuldigt, den Handel in Persien zu bedrohen, panislamische Politik zu betreiben und dort Hegemonialinteressen zu verfolgen (200-207). Solche "absurden Unterstellungen" (202), die allerdings im Kontext der Wilhelminischen Weltpolitik durchaus plausibel waren, haben möglicherweise auf die seit Szlantas Arbeit nicht mehr haltbaren Thesen von B. Martin und N. Rezai bezüglich der imperialistischen Aktivitäten des Deutschen Reiches in Persien abgefärbt.

Szlanta entwirft meines Erachtens ein zu wohlwollendes Bild der britischen Ziele gegenüber den als durch und durch rücksichtslos charakterisierten russischen Hegemonialbestrebungen, die er mit der Polen-Politik Russlands Ende des 18. Jahrhunderts vergleicht (148 f.). So reißt er zwar die Bedeutung der Anglo-Persian Oil Company für die britische Kriegsflotte an (173 ff.), bettet sie aber nicht in den Kontext der britischen Befriedungspolitik bewaffneter Stämme in Südpersien ein. Die britische Kriegsmarine stellte bekanntlich den Treibstoff ihrer Motoren am Vorabend des Ersten Weltkrieges von Kohle auf Erdöl um, wobei die Hauptbezugsquelle Ābādān am Persischen Golf war. Der Zugang zu Treibstoff sollte später die Wende im Krieg zugunsten der Ententemächte herbeiführen. Dass unter diesen Voraussetzungen Großbritannien "ein unabhängiges und möglichst starkes Persien" (234) anvisierte, wäre zu hinterfragen. Hält man sich vor Augen, dass erst die Nationalisierung des Erdöls unter Muṣaddiq 1951 den Machenschaften der Briten im Iran zumindest offiziell ein Ende bereitete, müsste Szlantas Deutung in diesem Punkt relativiert werden.

Die Stärke der Studie liegt besonders dort, wo sie mit Primärmaterial (Archivalien) arbeitet. Dies betrifft in erster Linie die deutsche Persienpolitik in der Wilhelminischen Ära sowie die Positionen der hierfür Verantwortlichen. Die Analyse des deutschen "Désintéressement" an Persien ist restlos überzeugend und ein wichtiger Beitrag zur Imperialismusforschung, wenn man bedenkt, dass in Bezug auf die deutsch-persischen Beziehungen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts durch Piotr Szlanta die vorherrschende undifferenzierte Hypothese, dass das Deutsche Reich nach Bismarck überall expansionistisch und aggressiv ans Werk gegangen ist, anhand des Fallbeispiels Persien widerlegt wird.

Nader Purnaqcheband