Christian Rohr: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit (= Umwelthistorische Forschungen; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 640 S., 16 Abb., ISBN 978-3-412-20042-8, EUR 69,90
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Die in ihrer disziplinären und institutionellen Gestalt noch nicht genau umrissene, mehr und mehr aber zu einer festen Größe gewordene Umweltgeschichte hat sich in den letzten Jahren zunehmend von der Last befreit, als historische Hilfswissenschaft der Umweltbewegung zu fungieren und primär moralisierbare Ergebnisse zu liefern. Hierhin gehört auch, dass sie sich das seit längerem stetig wachsende Feld der historischen Katastrophenforschung auch der Vormoderne zueigen gemacht hat, das zwar in der Aufmerksamkeitsfokussierung von Gegenwartsinteressen her bestimmt ist, nicht aber als 'Vorgeschichte' gegenwärtiger ökologischer Krisen(ängste) verrechnet werden kann.
Hierhin gehört die Salzburger Habilitationsschrift von Christian Rohr. Sie bietet eine umfassend angelegte Untersuchung extremer Naturereignisse des 13./14. bis 16. Jahrhunderts für die Region des Ostalpenraums. Die Wahl des Untersuchungszeitraums erfolgte in programmatischer Absicht, um "die vielleicht viel zu willkürlich gesetzte Epochengrenze 1500" nicht zu zementieren und um die "Sattelzeit des 15. und 16. Jahrhunderts nicht mehr [...] zu 'zerreißen'" (15). Nach vier einleitenden Kapiteln zur Historiographie, zur Methode und zu den Quellen folgen sieben Kapitel zu den einzelnen Katastrophentypen (Erdbeben, Bergstürze, Überschwemmungen, Lawinen, extreme Witterungen, Tierplagen, 'astrologische' Katastrophen - Rohr grenzt medizinische und anthropogene Katastrophen (Seuchen, Brände, Kriege) aus). Als Quellen werden Annalen und Chroniken, Urkunden und Petitionen, Reiseberichte, Briefe, Tagebücher, naturphilosophisches und theologisches Schriftgut, Predigten, Dichtung und als nicht-textuelle Quellen Hochwassermarken, Inschriften, baugeschichtliche Befunde, visuelle und Druck-Medien herangezogen.
Die besondere serielle Quellengattung, die Rohr nutzbar gemacht hat, sind die Bruckamtrechnungen aus dem Stadtarchiv Wels, in der die Bruck- (Brücken-)Meister der Stadt wöchentlich Einnahmen und Ausgaben für die Instandsetzung der Brücke notierten. Hieraus kann Rohr insbesondere für das längste Kapitel zu den am häufigsten vorkommenden und am besten dokumentierten ostalpinen Extremereignissen, den Flusskatastrophen (201-398), wertvolle Informationen zu Hochwasser und Überschwemmungen an der Traun sowie zu den benötigten Ausgaben für Holz zum Brückenbau 1441-1559 beziehen, um so das Leben mit der alltäglichen Katastrophe, die 'Überschwemmungskultur' zu rekonstruieren.
Rohr stellt in allen Kapiteln möglichst umfassend die wichtigsten Extremereignisse des jeweiligen Typus im Ostalpenraum zusammen, die er aus den Quellen zusammengesucht hat, und untersucht dann einige herausstechende Beispiele exemplarisch: Die Erdbeben von 1348 in Friaul und Kärnten und von 1590 in Niederösterreich, der Bergsturz des Dobratsch 1348, das Jahrtausendhochwasser 1501, die Hochwasser 1567, 1569, 1572 und 1598. Er geht insbesondere auf die Frage der Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung der Katastrophen ein, dort, wo aus den Quellen rekonstruierbar, auch auf die ökonomischen und sozialen Fernwirkungen.
Eines der Hauptergebnisse der Arbeit ist, dass die in der Katastrophenforschung übliche Annahme, bis zur Aufklärung seien Katastrophen schlechthin aufgrund eines stets herrschenden theozentrischen Weltbildes als Strafe Gottes interpretiert worden (so etwa Manfred Jakubowski-Thiessen), nicht zutrifft; vielmehr zeigten die Quellen, dass im Spätmittelalter die Reflexion auf Gottes Straftätigkeit anlässlich von Naturkatastrophen relativ selten ist, dass sie zunächst in italienischen humanistischen Quellen auftaucht und nördlich der Alpen erst im konfessionellen Zeitalter gängig wird. Auch Wetterzauberpraktiken gelangten erst ab dem 15. Jahrhundert in den Fokus der Gelehrten, Astrologische Deutungen gewannen ebenfalls seit dem 15. Jahrhundert an Bedeutung (63, 145, 179, 436, 452, 549-551). Rohr nimmt hier eine These Ottavia Niccolis auf, wonach der Begriff der Sintflut (diluvium) in einem eschatologischen Horizont sich seit Ende des 15. Jahrhunderts aus Italien nach Europa verbreitet [1], und erweitert sie in Richtung auf den straftheologischen Deutungshorizont überhaupt.
Mit dieser These stützt Rohr de facto die Epochengrenze um 1500 mit den einschneidenden Veränderungsfaktoren Renaissance, Reformation, Konfessionsdifferenzierung, anstatt sie zu relativieren, wie er eingangs andeutet. Methodisch will die Arbeit als 'kulturgeschichtlich' verstanden werden, die "Überlegungen zum Wesen von Naturkatastrophen aus kulturgeschichtlicher Perspektive" (50-68, Hervorhebung C. Z.) erscheinen allerdings wenig weiterführend. Rohrs Konzept von 'Kulturgeschichte' erscheint insgesamt wenig profiliert, was daran spürbar wird, dass in die Auflistung von Extremereignis-Fakten, von seismologischen und hydrologischen Daten, bei Zitierung von Dichtungen und anderen Wahrnehmungszeugnissen scheinbar selbstverständliche Floskeln eingelassen sind wie "Aus kulturgeschichtlicher Sicht [...]" (347) oder "Kulturgeschichtlich bemerkenswert ist [...]" (407). Beobachtungen und Interpretationsbemühungen wie jene zum kathartischen Lachen als Reaktion auf Katastrophen (238) stehen vereinzelt. Dies ist nicht zuletzt der Ordnung der ganzen Arbeit nach Extremereignistypen geschuldet, die letztlich einen eher additiv-enzyklopädischen Eindruck hinterlässt. Wenn Rohr auch seine Befunde immer wieder mit Extremereignissen im übrigen deutschsprachigen Raum vergleicht, so liegt doch der spezifische Wert der Arbeit darin, für den Ostalpenraum mit hoher Gründlichkeit aus den verfügbaren Quellen die Katastrophenvorkommnisse zusammengestellt zu haben. Hier wird die Arbeit zweifelsohne als Nachschlagewerk bleibenden Wert haben und für andere regionale Studien wertvolles Vergleichsmaterial bieten. Ebenso wird die Relativierung der Vorstellung von einem universalen straftheologischen Deutungshorizont der Vormoderne für weitere Untersuchungen anregend wirken - was noch fehlt, ist ein Erklärungsmodell für das festgestellte Faktum. Insgesamt trägt die Studie in hohem Maß zur Verdichtung des katastrophengeschichtlichen Forschungsfeldes jenseits der inzwischen zahllosen Sammelbände bei.
Anmerkung:
[1] Ottavia Niccoli: Prophecy and People in Renaissance Italy, Princeton NJ 1990, 143f.
Cornel Zwierlein