Raul Teitelbaum: Die biologische Lösung. Wie die Schoah "wiedergutgemacht" wurde, Springe: zu Klampen! Verlag 2008, 367 S., ISBN 978-3-86674-026-6, EUR 24,80
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"Die biologische Lösung": Mit diesem knalligen Titel ist es Raul Teitelbaum gelungen, die These seines Buches in griffiger Weise zu verdichten. Inhaltlich und temporal schließt dies gewissermaßen an Christian Pross' Studie "Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer" [1] an. Und ähnlich wie der sprichwörtlich gewordene Titel dieses Buches ist auch der suggestive Titel von Teitelbaums Studie auf dem besten Weg, sich vom Buchdeckel zu lösen und in den öffentlichen Diskurs einzusickern. Pross hatte in seiner 1988, auf dem Höhepunkt der Kampagne zugunsten der "vergessenen Opfer" des Nationalsozialismus, erschienenen Studie den anklagenden Finger vor allem auf die deutsche Entschädigungsbürokratie gerichtet. Dagegen entwirft Teitelbaum nun das Bild einer komplizenhaften Verschwörung, an der neben deutschen und israelischen Politikern und Beamten nicht zuletzt auch die Jewish Claims Conference partizipiert habe. Gemeinsam hätten diese versucht, die Entschädigungsansprüche jüdischer NS-Verfolgter auf die lange Bank zu schieben, und damit erreicht, dass ein Großteil aus dieser Gruppe niemals eine Entschädigung für ihre Leiden während des Holocaust erhalten habe.
Um es kurz zu machen: Das stimmt so einfach nicht und es ließe sich nun eine lange Liste historischer Irrtümer in diesem Buch anführen. Neben einer durchaus selektiven Wahrnehmung der mittlerweile umfangreichen Sekundärliteratur sowie der Quellen trägt dazu auch der - zurückhaltend formuliert - voluntaristische Umgang mit Zahlen und Statistiken bei. Um nur ein Beispiel dafür anzugeben: Teitelbaum argumentiert, dass der Staat Israel das Fünffache dessen für Invalidenrenten an individuelle Holocaustüberlebende ausgegeben habe, was er von der Bundesrepublik aufgrund des Luxemburger Abkommens von 1952 erhalten habe. Demgegenüber kam eine israelische Regierungskommission, welche die Kapitalisierung dieser beiden Positionen berücksichtigte, jüngst zu dem Ergebnis, wonach der Wert der bislang ausbezahlten Renten nur zwischen einem Drittel und der Hälfte des Wertes der von Deutschland gelieferten Waren und Güter gelegen habe. [2] Auch sonst sind die Zahlenangaben in diesem Buch jeweils um den größten dramatischen moralischen Effekt bemüht, ohne dass eine sorgfältige Auseinandersetzung mit deren Grundlagen und Zustandekommen erfolgt wäre. Als Fachhistoriker müsste man also erst einmal die gelbe Karte zücken.
Alternativ ließe sich aber auch versuchen, dieses Buch an seinem eigenen Anspruch zu messen: Es handelt sich um die subjektive Erlebnisschilderung eines vom Holocaust persönlich betroffenen Journalisten und Publizisten, der, zumindest soweit es die letzten Jahrzehnte betrifft, auch über die Entschädigungsangelegenheiten aus der Teilnehmerperspektive berichtet und sich kaum die Mühe macht, seine aus der Zeitzeugenperspektive gewonnenen persönlichen Eindrücke zu objektivieren. Das ist legitim, doch da dieses Buch andererseits mit dem Anspruch auftritt, nicht nur die persönliche Meinung des Autors zu vertreten, sondern eine gültige Gesamtinterpretation der Entschädigung für jüdische NS-Verfolgte zu bieten, ist zu viel Nachsicht wiederum auch nicht angebracht. Dies gilt umso mehr, als dieses Buch vermutlich vor allem Leser außerhalb der Fachwelt erreichen dürfte.
Ungenau und fehlerhaft ist dieses Buch insbesondere überall dort, wo es die allgemeine Geschichte der Entschädigung bzw. Nichtentschädigung jüdischer NS-Verfolgter beschreibt. Während diese Teile zudem auch noch kaum neue Informationen enthalten, sind die letzten Teile des Buches, die sich mit den innerisraelischen Kontroversen zur Entschädigungsfrage beschäftigen, zwar gleichfalls in vielerlei Hinsicht kritikwürdig. Aber immerhin enthalten diese - zumindest für den deutschen Leser - mancherlei Neues, zumal wenn es um die israelische Entschädigungsdebatte der letzten Jahre geht. Dabei zeigt sich in Teitelbaums Argumentation in zumindest einer Hinsicht eine gewisse Nähe zu dem vor einigen Jahren skandalisierten Buch von Norman Finkelstein über die "Holocaust Industry" [3]: Beide gehen vor dem Hintergrund eigener biografischer Erfahrungen von der angeblichen Benachteiligung individueller Holocaustüberlebender bei der Entschädigung durch die Jewish Claims Conference bzw. auch den israelischen Staat aus. Für Finkelstein war dies allerdings vor allem ein argumentatives Sprungbrett für seinen radikalen Antizionismus. Bei Teitelbaum kann von solchen Anwandlungen dagegen keinerlei Rede sein: Was bei Finkelstein zum Vorwand für das Ausleben seiner radikalen Israelfeindschaft wurde, stellt bei ihm das eigentliche Anliegen dar.
Man sollte dieses Buch daher vielleicht besser nicht als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entschädigung oder Nichtentschädigung jüdischer Holocaustopfer lesen - dafür enthält es einfach zu viele schiefe Einschätzungen und Fehler. Lesenswert ist dieses Buch hingegen als ein Dokument der jahrzehntelangen und immer noch anhaltenden Auseinandersetzung um die schwierige Frage, wer legitimerweise die Interessen der lebenden und vor allem auch der toten jüdischen Holocaustopfer vertritt.
Anmerkungen:
[1] Christian Pross: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Berlin 2001 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a.M. 1988).
[2] José Brunner / Norbert Frei / Constantin Goschler: Komplizierte Lernprozesse. Zur Geschichte und Aktualität der Wiedergutmachung, in: Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, hgg. von José Brunner / Norbert Frei / Constantin Goschler, Göttingen 2009, 33.
[3] Norman G. Finkelstein: The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, London / New York 2000.
Constantin Goschler