Christina Antenhofer / Mario Müller (Hgg.): Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert. Le lettere nella comunicazione politica dall'Antico Oriente fino al XX secolo (= Schriften zur politischen Kommunikation; Bd. 3), Göttingen: V&R unipress 2008, 346 S., ISBN 978-3-89971-523-1, EUR 49,90
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Basierend auf einer Tagung des deutsch-italienischen Graduiertenkollegs "Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert" (Bologna, Frankfurt am Main, Innsbruck, Pavia und Trient) versammelt der vorliegende zweisprachige Sammelband Beiträge zur Rolle von Briefen in der politischen Kommunikation. Eine geschichtswissenschaftliche Brieftheorie auf aktuellem quellenkritischen Stand, die ein großes Desiderat ist, wird vernünftigerweise gleich gar nicht in Aussicht gestellt, sondern disziplinenübergreifende Forschungs- und Diskussionsanregungen.
Vor allem vier Aspekte des Themas betonen die Herausgeber in ihrer Einführung: Zunächst das in verschiedenen Epochen unterschiedlich ausgeprägte Paradox, dass das private, da exklusiv und verschlossen an benannte Empfänger gerichtete Medium Brief sich gleichzeitig besonders für die "Eruierung von politischen Öffentlichkeiten" (23) eignet. Gerade weil sich brieflich eine begrenzte und kontrollierbare politische Öffentlichkeit schaffen lässt, seien Briefe zum Zweiten als "Indikatoren und Ausdrucksformen von politischen Netzwerken" (26) zu sehen. Zum Dritten sei zu beachten, wie die im Brief angelegte Direktheit und Eindringlichkeit individueller Botschaften zu politischer Meinungs- und Gemeinschaftsbildung genutzt wird. Schließlich seien diese drei Aspekte in dem Sinne zu problematisieren, dass viertens die Geschichte des Briefeschreibens immer auch eine Geschichte des Briefesammelns und -archivierens ist. Die Ungleichheit der Überlieferungsschancen wiederum weist nicht nur auf bildungs-, sozial- und geschlechtergeschichtliche Aspekte, sondern schließt auch den Kreis von der politischen Öffentlichkeit zurück zur intimen - und damit der Öffentlichkeit entzogenen - Privatheit.
Im weit gespannten Bogen der historischen Disziplinen ist die Alte Geschichte mit zwei Beiträgen vertreten: Manfred Schretter gibt einen Überblick über die materielle Briefkultur und sich wandelnde Briefformulare im Alten Orient. Monika Frass demonstriert am Beispiel von Empfehlungsschreiben in den Briefen Plinius des Jüngeren, wie sich Standardformulierungen dieses Brieftyps in philologischer Analyse als Ausdruck von Patronats- und Klientelbeziehungen lesen lassen, die Politik wie Geselligkeit dominierten.
Im ersten von drei mediävistischen Beiträgen analysiert Jürgen Herold den sprachlichen und grafischen Formwandel im hoch- und spätmittelalterlichen Brief, unter anderem mit dem sprachwissenschaftlichen Modell der "konzeptionellen Mündlichkeit". Die Neuerung gerade der volkssprachigen Briefe sei es gewesen, die Direktheit einer Gesprächssituation sprachlich umzusetzen. Da in der Briefgeschichte normalerweise das antike Konzept des Briefes als unmittelbarer Gesprächsersatz ("acsi ore ad os") der formelhafteren mittelalterlichen ars dictandi wie auch der frühneuhochdeutschen Kanzleirhetorik gegenübergestellt wird, bürstet Herold die Geschichte der Briefrhetorik hier stärker gegen den Strich, als er es selbst deutlich macht. Das ist interessant, wird sicher aber nicht nur Zustimmung finden. Heinz-Dieter Heimann schließlich widmet dem Genre der Himmels- und Jenseitsbriefe einen Beitrag, also der als Mitteilungen Gottes, Jesu, Marias oder Heiliger fingierten Briefe. Heimann deutet dieses Genre vor allem als Frömmigkeitsliteratur, es sollte aber nicht übersehen worden, dass es oft auch in Musterbriefsammlungen eingegangen ist, also Teil der Rhetorikschulung und der Schreiberausbildung war. Michael Grünbarts Überblick über Tendenzen der byzantinistischen Briefforschung rundet den Abschnitt ab.
Im Abschnitt zur Frühen Neuzeit gelingt Heinz Noflatscher mit seinem gedankenreichen, den kulturwissenschaftlichen und den aktenkundlichen Autografenbegriff fruchtbar zusammenbringenden Essay über die frühneuzeitliche eigenhändige Herrscherkorrespondenz der herausragende Beitrag des Bandes. Noflatscher möchte politisch-administrative Autografen der Fürsten und Monarchen als Herrschaftstechnik mit besonderer Affinität zum absolutistischen Regierungssystem, mithin als "autografe Machtausübung", ihre Produkte gleichzeitig als von einem intensiven Kult der Herrscherpersönlichkeit reliquienhaft aufgeladen verstanden wissen. Die Motive und Kontexte monarchischer Eigenhändigkeit gliedert er dabei überzeugend in acht sich teilweise überschneidende Aspekte auf, von denen jeder mit wenigen, aber treffenden Quellenbeispielen belegt ist. Klaus Beyrers Überblick über die Infrastruktur und die Bedingungen des Brieftransports in der Frühen Neuzeit lenkt den Blick von der quasi ikonischen Bedeutung herausgehobener Briefe auf die Bedingungen massenhafter und alltäglich werdender Briefkommunikation.
Christian Jansens Plädoyer für die Beschäftigung mit Briefnetzwerken in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts geht von der Annahme aus, dass zum einen die Pressezensur, zum anderen das Fehlen eines eindeutigen politischen Zentrums Briefnetzwerke zu den wichtigen Trägern politischer Kultur machten. Jansen skizziert die politischen und logistischen und sozialhistorischen Grundbedingungen des Briefverkehrs, stellt existierende Editionen und Erschließungsarbeiten vor und skizziert schließlich ein konkretes Forschungsprogramm. Luigi Ghezzi beschreibt die seit den 1880er-Jahren verbreiteten Post- und Ansichtskarten als Träger öffentlicher Erinnerungskultur, veränderter, weil durch die Weitergabe und Präsentation kollektiv gewordener Formen der Korrespondenz, und einer neuen, Text und Bild verbindenden Medialität der Kommunikation.[B1] Gunda Barth-Scalmani unterzieht die seelsorgerisch-propagandistischen "Kriegsbriefe" des Erzbistums Salzburg von 1914 einer Diskursanalyse. Dabei trägt die skurrile Entscheidung, den Beitrag selbst in fingiert altertümlichen Briefstil zu kleiden, nicht gerade zur Schärfung der Thesen bei. Auf eine rein inhaltliche Auswertung von Briefwechseln beschränkt sich Anton Unterkirchers Vorstellung des Briefnetzwerks rund um die kurzlebige (1932) Berliner antifaschistische Zeitschrift "Der Sumpf". Abgeschlossen wird der Band durch Elena Tonezzers in Quellenauswahl und Methodik originellen Beitrag über tausende Fanbriefe an die italienische Sängerin Gigliola Cinquetti, die ihre Anhänger vor allem im ländlichen, ärmeren und sozial konservativen Segment der weiblichen Bevölkerung hatte. Ausgehend von der linguistischen Analyse der von der Hochsprache weit entfernten Briefe zeichnet Tonezzer ein sensibles und dichtes Generationen- und Milieuporträt.
Zeigen die Abschnitte zur antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte zumindest exemplarisch die relevanten Forschungsbereiche und einige Lösungsansätze auf, leidet der Abschnitt zur neueren und zur Zeitgeschichte doch unter den stark divergierenden Forschungshorizonten und der Unschärfe, die den konzeptionellen Klammern "Briefe" und "politische Kommunikation" zueigen ist. Dass neben Untersuchungen von Korrespondenz im eigentlichen Sinne durchweg auch "offene" und fingierte Briefgattungen einbezogen werden, ist sinnvoll, nur ist die Divergenz und Spannung zwischen beiden Feldern das Grundproblem einer quellen- und medienkundlichen Beschäftigung mit "politischen" Briefen. Indem die Einleitung dies nicht klar genug angeht, aber auch durch die rein chronologische Konzeption des Sammelbandes, wurde die Chance vergeben, es als solches greifbar und nutzbar zu machen. Weil viele Beiträge von Briefen als konkreten Schriftstücken oft zu schnell abstrahieren, gelingt es selten, zu zeigen, wie quellenkundliche Untersuchungen zur Sprache, Technik, Materialität und Medialität der Korrespondenz in einzelnen Zeitabschnitten und politischen Systemen der jeweiligen Sphäre des "Politischen" als Kommunikationsraum neue Konturen verleihen können.
Julian Holzapfl