Christian Hartmann: Halder. Generalstabschef Hitlers 1938-1942, 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 439 S., ISBN 978-3-506-76762-2, EUR 24,90
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Christian Hartmann gilt als Fachmann für die Wehrmacht im Nationalsozialismus. Mit dem vorliegenden Werk, seiner nun in zweiter Auflage herausgegebenen Dissertation, hat der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte vor beinahe 20 Jahren dazu die Grundlage gelegt. Als Qualifikationsarbeit ist es klassisch gegliedert: Es arbeitet im Hauptteil nach einer "biographischen Vorgeschichte", dem "Versuch einer Charakterisierung" des Protagonisten sowie der strukturellen Darstellung der deutschen militärischen Führung in vier annähernd gleichstarken Kapiteln Halders Zeit als Generalstabschef des deutschen Heeres zwischen 1938 und 1942 ab. Dass sich der Verfasser dabei am chronologischen Verlauf des Zweiten Weltkrieges bis zur Entlassung seiner Hauptperson orientiert, ist nachvollziehbar.
Der Unterschied zur ersten Auflage von 1991 besteht allein in der Beigabe eines 40seitigen "Nachworts zur 2. Auflage". Dieses ist allerdings aller Ehren wert, denn hier unterstreicht Hartmann seine Expertise. Kenntnisreich diskutiert er nicht nur die Forschungsentwicklung, sondern verbindet diese auch mit der Entstehung der "Neuen Militärgeschichte" im wiedervereinigten Deutschland. Gleichwohl weist sein gezogenes Fazit auf kein geringes Problem der vorliegenden Arbeit: "Eine Diktatur wie die nationalsozialistische, eine Armee, die so sehr auf das Prinzip von Befehl und Gehorsam setzte wie die Wehrmacht, und nicht zu vergessen ein so unbarmherziger Krieg wie der gegen die Sowjetunion, der sich in seinen Kampfzonen zunehmend verselbständigte, ließen von den vielbeschworenen 'Handlungsspielräumen' dieser Menschen [gemeint sind die Angehörigen der Wehrmacht; J.Z.] sehr oft nur sehr wenig übrig" (434). Diese sehr oberflächliche Feststellung relativiert der Verfasser in seinem Schlusswort umgehend selbst: "Oft, nicht immer, wurden deutsche Soldaten allein deshalb zu Tätern, weil sie Weisungen und Befehlen gehorchten, die Leute wie Halder formuliert hatten. Das kann [...] an der persönlichen Schuld dieser Soldaten nur wenig ändern. Doch erinnert das Beispiel des Generalstabschefs Halder immer auch daran, dass sich zumindest die Verantwortung dafür sehr unterschiedlich verteilte. Auch darin liegt seine historische Bedeutung" (435). Hier ist man zwar wieder bei Hartmann, doch bleibt ein Beigeschmack: Wer, wenn nicht die handelnden Militärs sollten denn für die mörderische Kriegführung gerade im Osten Europas verantwortlich zeichnen? Soll am Beispiel des damaligen Generalstabschefs ein neuer Versuch unternommen werden, die Wehrmachtelite des 'Dritten Reiches' als reine Funktionselite einzustufen, zu der sie sich selbst in ihrer Erinnerungsliteratur - Halder auch hier an maßgeblicher Stelle - stilisiert hatte?
Diesen Verdacht widerlegt der Verfasser mit seiner detailreichen Aufarbeitung des beruflichen Lebensweges Halders auf angenehm lesbare Weise. Dabei geht es Hartmann um zweierlei: Zum einen will er einen "Mittelweg" anstreben "zwischen den beiden Möglichkeiten einer reinen Lebensbeschreibung und einer bloßen, auf die militärisch-politische Ereignisse hin ausgerichteten, Analyse", zum anderen "Halders Tätigkeit als Generalstabschef schildern" (16). Beides gelingt dem Verfasser ausgezeichnet: Er beginnt mit der Nachfolge des über die sich anbahnende militärische Katastrophe ebenso wie am Opportunismus seiner Generalskameraden verzweifelten Ludwig Beck. Von dort an analysiert Hartmann über die Euphorie der ersten "Blitzsiege" bis hin zur sich abzeichnenden Niederlage im Osten detailgenau den Weg eines Mannes, der "in mancher Hinsicht den Typus des klassischen Generalstäblers [verkörperte]" (69).
Wie so viele seiner Kameraden in der deutschen Militärelite entstammte Halder einer traditionellen (bayerischen) Offiziers- und Beamtenfamilie, erlebte den Ersten Weltkrieg als Generalstabsoffizier, empfand das Ende der Monarchie in Deutschland "als einschneidende, wenn nicht sogar als die einschneidendste (sic!) Erfahrung in seinem Leben überhaupt" (37). Die Wirren um die Münchner Räterepublik und den Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin ließen ihn trotz aller tatsächlichen oder behaupteten Affinität zu den unterschiedlichen Oppositionszirkeln glauben, einen Bürgerkrieg vor allem anderen verhindern zu müssen. In die Reichswehr übernommen, reüssierte er dort mittels Fleiß und eines ausgeprägten Organisationstalents rasch. Zwar stand er dem Nationalsozialismus alles andere als aufgeschlossen gegenüber und widersetzte sich in seiner Zeit in München mehr als einmal den braunen Gesellen (46-49), doch trennte er scharf zwischen Hitler und den meisten seiner Anhänger. Widerstand hielt Halder nicht etwa wegen der Verbrechen des Regimes, sondern "allein in der Sorge um die übergreifende nationale Sache" (345) für gerechtfertigt. Demgegenüber erkennt Hartmann auch bei Halder Manfred Messerschmitts "Teilidentität der Ziele" wieder. Zusammen mit einem diffusen Loyalitäts- und Pflichtbewusstsein rangierten sie über jeder professionellen Erkenntnis. Als dann mit den Siegen über Polen und vor allem über Frankreich, "das militärische Weltbild des Generalstabschefs gewissermaßen auf den Kopf gestellt [wird]", hatte das zur Folge, "dass seine kritische Reserve gegenüber der nun ungehemmten Hybris der Hitlerschen Kriegführung um so rascher zusammenschmilzt" (347). Fortan unterwarf sich Halder dem Diktator endgültig - und war sich dessen sowie der damit verbundenen "Hinnahme der deutschen Verbrechen" (203) früh bewusst.
Schonungslos stellt Hartmann die Widersprüchlichkeit von Person und historisierender Bedeutung dar: Halder sei insbesondere in den Vernichtungskrieg im Osten "keineswegs schuldlos [...] 'verstrickt'" worden, sondern habe "daran maßgeblich mitgearbeitet", sich "mehr und mehr zum bloßen Erfüllungsgehilfen des 'Führers' entwickelt" (352). Dass er sich dann doch habe ersetzen lassen, wertet Hartmann als Beweis, "wie sehr Halder gescheitert ist": "Erst als alles zu spät war, zog er Konsequenzen" (352). Am Ende bleibt er für den Verfasser nicht mehr als ein "militärischer Spitzenfunktionär", dessen "Einzelschicksal vergleichsweise bedeutungslos [erscheint] angesichts der militärischen und politischen Folgen, die sich aus diesem Wirken ergaben" (353).
Im Ergebnis wurde also eine herausragende, phasenweise brillante Analyse eines der führenden Militärs der Wehrmacht erneut aufgelegt. Sie beweist einmal mehr, wie sehr sich auch ein vergleichsweise kluger Kopf wie Halder in den größtenteils selbst angelegten Fesseln gefangen sah. Hartmann enttarnt dies ebenso wie das lange erfolgreiche Unterfangen des Protagonisten, die eigene Rolle völlig umzuschreiben, als sich ihm nach dem Krieg von US-amerikanischen Gnaden die Gelegenheit dazu bot (17-23). Von einer zweiten Auflage nach so langer Zeit hätte man sich freilich mehr erhoffen können. Insbesondere wäre es reizvoll gewesen, die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse anderer Forschungsansätze einzuweben; hier seien nicht an letzter Stelle die Kulturgeschichte, insbesondere die Generationenforschung angeführt. Wie beispielhaft Halder als militärische Führungspersönlichkeit gewesen ist, dieser Frage geht Hartmann nämlich nur in der Feststellung des persönlichen Verantwortungsgrades nach. Was aber, wenn ein möglicher Schluss gewesen wäre, dass es gleichgültig gewesen wäre, wen aus der militärischen Führungskaste Hitler statt Halder 1938 ernannt hätte? Eine methodisch erweiterte Überarbeitung hätte hier zu vertiefenden Erkenntnissen führen können. Deren Ertrag hat Johannes Hürter mit seiner Studie über die deutschen Oberbefehlshaber im Vernichtungskrieg 2006 bewiesen. [1] Hartmann selbst hat schon 1991 erkannt, dass "Halders Lebenswerk, sein Charakter, seine Denk- und Verhaltensweisen [...] in mancher Hinsicht repräsentativ für eine ganze militärische Führungsschicht [sind]" (16), und zwanzig Jahre später Hürters Werk explizit gelobt (410). In der zweiten Auflage seiner Arbeit umgesetzt hat er dies aber leider nicht.
Anmerkung:
[1] Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 66), München 2006. Vgl. hierzu die Rezension von Jochen Böhler, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7, URL: http://www.sehepunkte.de/2008/07/11499.html
John Zimmermann