Il'dus K. Zagidullin: Islamskie instituty v Rossijskoj Imperii. Mečeti v Evropejskoj časti Rossii i Sibiri. [Islamische Institutionen im Russischen Reich. Moscheen im europäischen Teil Russlands und in Sibirien], Kazan': Tatarskoe Knižnoe Izdat. 2007, 415 S., ISBN 978-5-298-01534-9
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Bereits seit dem 16. Jahrhundert gab es im Russischen Reich muslimische Untertanen. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts erfolgten die offizielle Anerkennung des Islam im Toleranzedikt von 1773 und die Legalisierung islamischer Religionsausübung.
In seiner Monographie untersucht Il'dus Zagidullin das Verrichten des öffentlichen Gebets als einen zentralen Aspekt islamischer Religionspraxis. Wie wurde es traditionell von den Muslimen im Russischen Reich praktiziert und welchen Stellenwert hatte dieses Ritual? Wie verlief die imperiale Legalisierung und Normierung islamischer Religionsausübung auf diesem Gebiet? Welche Tendenzen zeigten sich bei der Regulierung der islamischen Sakralarchitektur und bei deren Umsetzung in die Praxis? Bisher wurden nur Teilaspekte der Thematik erforscht. Unter Anwendung verschiedener Theorieansätze analysiert der Autor das öffentliche Gebet als ein komplexes sozio-kulturelles Phänomen.
Die Monographie gliedert sich in vier Hauptkapitel. Im ersten Kapitel erörtert Il'dus Zagidullin methodologische Grundlagen und die Aktualität seiner Untersuchung. Seine Studie basiert auf einer äußerst detaillierten Darstellung und Analyse des mannigfaltigen Quellenkorpus, das sich in erster Linie aus normativen Dokumenten (imperialen Gesetzen und Anordnungen), statistischen Daten und Berichten von Zeitgenossen (Ethnographen, orthodoxen Geistlichen, Verwaltungsbeamten, muslimischen Intellektuellen) zusammensetzt. Die Begründung der Fragestellung verbindet der Autor mit einem umfassenden und informativen Abriss der Grundtendenzen der Islamforschung im Russischen Reich, in der Sowjetunion und schließlich in der postsowjetischen Russischen Föderation.
Im zweiten Kapitel analysiert der Autor die "Adaptierung und Integration" (5) des islamischen öffentlichen Gebets und der Moschee als Gebetsort in den imperialen politisch-administrativen Raum. Eine Darstellung imperialer Gesetzgebung und ihrer Anwendung veranschaulicht die historischen und normativen Rahmenbedingungen für die islamische Religionsausübung im Russischen Reich. Anfangs bestimmten die Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche und die lokalen Verwaltungsbeamten die Grundzüge der imperialen Islampolitik. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die muslimische Partizipation (in Form der Geistlichen Versammlung) zugelassen. Wie Il'dus Zagidullin überzeugend darlegt, verlief die Schaffung einer normativer Basis für den Moscheenbau nicht systematisch, stattdessen wurden Einzelfälle zur geltenden Norm erhoben. Diese Bestimmungen regelten verschiedene Aspekte in Hinblick auf die Verrichtung des öffentlichen Gebets: Anforderungen zu Bauprojekten, Genehmigungsprozeduren für die Moscheen, gesetzliche Kriterien einer muslimischen Gemeinde als Trägerin einer Moschee und Voraussetzungen für Imame.
Der religiöse und soziale Stellenwert des Gebets sowie die Umsetzung der neuen politischen Bestimmungen werden im dritten Teil dargestellt. Die Moschee wurde hiermit zum einzigen legitimen Ort der öffentlichen Gebetsverrichtung. Jede über 200 Muslime verfügende Gemeinde war berechtigt, eine Moschee zu bauen, was oft zum Zusammenschluss kleiner "realer" Gemeinden zu einer "normativ vorgeschriebenen" Gemeinde führte. Außerdem ordneten die imperialen Gesetze jeder Moschee eine feste Anzahl an "staatlich anerkannten" Imamen und Muezzinen zu. Gerade diese Maßnahme erleichterte die staatliche Kontrolle der Ulama. Nach sorgfältiger Auswertung von normativen Rundschreiben und Archivakten kommt der Autor zu der Überzeugung, dass eine Moschee neben ihrer zentralen Funktion als Ort der öffentlichen Gebetsverrichtung weitere Aufgaben erfüllte. Die anliegende Medrese machte sie zum Bildungszentrum. Das Spendensammeln zugunsten der Opfer von Missernten, Erdbeben und Kriegen, die das Russische Reich führte, deutet auf eine karitative Funktion hin. Die Moschee wurde auch (ebenso wie Kirchen) als Ort der Verkündung imperialer Gesetze und Anordnungen genutzt. Die regelmäßigen Gebete zum Wohlergehen der Herrscher sollten das Loyalitätsgefühl der Muslime gegenüber der Zentralmacht festigen. Im letzten Unterkapitel erörtert der Autor historische Gestaltungsmöglichkeiten eines öffentlichen Gebets im Rahmen von jährlichen Volksfesten.
Im vierten Kapitel untersucht Il'dus Zagidullin den Einfluss innenpolitischer Tendenzen auf die islamische Sakralarchitektur und die Besonderheiten des Moscheebaus in den Städten und auf dem Land. Den zentralen Aspekt bildet das Phänomen der "Musterbauprojekte" für Moscheen. Bei ihrer Einführung im Jahre 1829 ging es in erster Linie um die technische Kontrolle bei der Errichtung einer neuen Moschee (Stabilität, Brandschutz und symbolische Repräsentanz eines sakralen Baues). 1843 erfolgte eine partielle Anpassung der "Musterbauprojekte" an die religiöse Praxis der Muslime im Russischen Reich. Erst 1862 erhielten muslimische Gemeinden das Recht, Bauprojekte selbst zu gestalten, solange sie imperialen Bauvorschriften entsprachen und von Baubehörden genehmigt wurden. Nach der äußerst detaillierten Analyse der Baunormen widmet sich der Autor deren Umsetzung in praxi. Den Darstellungsgegenstand bilden dabei die zuständigen Behörden, die praxisbedingten normativen Veränderungen, der Bauablauf und die Eigenarten islamischer Sakralarchitektur auf dem Lande und in den Städten. Darüber hinaus werden Regelungen zur Renovierung und Restaurierung islamischer Architekturdenkmäler erörtert.
Im Ergebnis stellt der Autor fest, dass die imperialen Regulierungsmechanismen zum islamischen Gebet nicht aus einer systematischen Islampolitik resultierten. Vielmehr wurde den Einzelfallregelungen per Gesetz normative Gültigkeit verliehen. Bei der umfassenden Analyse hebt der Autor vier Aspekte zur Regulierung des Gebetsrituals im Russischen Reich hervor. Auf der sozio-politischen Ebene diente das Ritual der Vermittlung pro-imperialer Orientierung und der Stärkung der Loyalität der Muslimen. Auf der sozialen Ebene wurde die Autonomie der Gemeinde bei der Gestaltung islamischer Religionsausübung durch behördliche Kontrolle eingeschränkt: Die Ernennung der Imame oder der Bau einer neuen Moschee musste von den zuständigen Behörden genehmigt werden. Die islamische Sakralarchitektur war jahrzehntelang stark unifiziert, wobei islamische Bautraditionen weiterhin gepflegt wurden. Auf der rituellen Ebene konnten die staatlich geprüften Imame den Ritus weitgehend nach eigenem Ermessen gestalten.
In seiner handwerklich soliden Monographie liefert Il'dus Zagidullin eine sehr gelungene vielschichtige Analyse der Legalisierungs- und Regulierungsprozesse islamischer Religionsausübung einerseits und der Funktionsmechanismen einer islamischen Gemeinde andererseits. Durch die Einbeziehung der mannigfaltigen Quellen konnte der Autor nicht nur die Makroebene, sondern auch die Mikroebene überzeugend darstellen und das Phänomen islamischen Gebetsrituals in allen Aspekten untersuchen. Eine weitere Stärke bilden die umfangreichen Illustrationen: Baupläne und Photos zahlreicher Moscheen des Russischen Reichs sowie Zeichnungen aus dem muslimischen Alltag. Sie erlauben einem interessierten Leser tiefe Einblicke in die muslimische Lebenswelt des 19. und des 20. Jahrhunderts.
Elena Smolarz