Heiner Bröckermann: Landesverteidigung und Militarisierung. Militär- und Sicherheitspolitik der DDR in der Ära Honecker 1971-1989 (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 20), Berlin: Ch. Links Verlag 2011, XII + 953 S., ISBN 978-3-86153-639-0, EUR 49,90
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Vor dem Fall der Mauer gehörte die Militär- und Sicherheitspolitik des SED-Staats zu den kaum beackerten Forschungsfeldern. Durch die Öffnung der DDR-Archive nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich diese missliche Forschungslage erheblich verbessert. Den Anfang machte dabei 1993 die Bundeswehr mit einem von Generalinspekteur Klaus Naumann herausgegebenen Sammelband zur Nationalen Volksarmee (NVA), der vor dem Hintergrund der in der öffentlichen Wahrnehmung noch nicht völlig erkalteten Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss das operative Denken im Warschauer Pakt und dessen Einsatzgrundsätze für den Kernwaffengebrauch untersuchte. [1]
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) nahm die NVA durch eine stattliche Reihe von Studien gleichsam in den Kanon der deutschen Militärgeschichte auf. Für die weitere Arbeit erwies es sich indessen als Problem, dass 1995 bereits ein Buch über den Nationalen Verteidigungsrat (NVR) der DDR erschienen war, das, der Aktenlage entsprechend, schwerpunktmäßig die Militär- und Sicherheitspolitik der Ära Honecker untersuchte. Otto Wenzel, ein promovierter Historiker und ehemaliger Schulstadtrat aus dem Berliner Bezirk Wedding, hatte eine kompakte und gut lesbare Darstellung verfasst, die von dem Thema gleichsam den Rahm abschöpfte, indem sie die Perspektive des politisch-militärischen Spitzengremiums des SED-Staats auf eine in latente Kriegsbereitschaft versetzte Gesellschaft rekonstruierte. [2] Der erste, dem sich dieses Hindernis in den Weg legte, war Armin Wagner, der sich in seiner Dissertation zum Nationalen Verteidigungsrat insofern gut aus der Affäre zog, als er die von Wenzel nur angerissene Gründungsphase des NVR unter dem Leitbegriff der "Sicherheitsarchitektur" in all ihren Verästelungen ausleuchtete. [3]
Das hier besprochene Werk zur Ära Honecker hat Heiner Bröckermann ganz bewusst als Fortschreibung von Wagners Arbeit angelegt, der Begriff der "Sicherheitsarchitektur" steht auch bei ihm konzeptionell im Zentrum. Darüber hinaus unternimmt Bröckermann aber auch den Versuch, seine Strukturgeschichte der Militär- und Sicherheitspolitik des SED-Staats in eine Gesamterzählung über die letzten beiden Jahrzehnte des Kalten Krieges einzubetten. Das Ergebnis ist, so muss der Rezensent leider sagen, ein vollständiger Schiffbruch auf weit über 800 Textseiten.
Im eigentlichen Kernbereich des Werkes, der Beschreibung der sogenannten "Sicherheitsarchitektur", erweist es sich für den Leser rasch als fatal, dass Bröckermann keine Diagramme beigefügt hat, die es erlauben würden, im Wust der Abkürzungen von Gliederungen und Untergliederungen, die sich bis hin zur KEL (Kreiseinsatzleitung) und BBS (Betriebsberufsschule) erstrecken, einigermaßen den Überblick zu behalten. Überdies erschlägt der umfassende Ansatz vielfach die Analyse, so dass sich die Darstellung häufig in der bloßen Wiedergabe von Dokumenteninhalten erschöpft. Der Verzicht darauf, das Kriegsbild des Warschauer Pakts zu rekonstruieren, erweist sich als weiteres Manko: Dass sich die in wirtschaftlicher Hinsicht selbstmörderische Militarisierung des SED-Staats vor dem Hintergrund einer Strategie vollzog, die im Ernstfall einen Kernwaffenkrieg in Europa mit wuchtigen Offensiven zu gewinnen trachtete, wird so kaum deutlich. Stattdessen befasst sich Bröckermann ausführlich mit dem 1925 verstorbenen Michail Frunze, in dem schon Armin Wagner einen sowjetischen Clausewitz zu erkennen vermeinte.
Ein Verdienst Bröckermanns besteht aber darin, den Wert der seinerzeit offen zugänglichen Quellen festgestellt zu haben. Aus den Reden der Verteidigungsminister Hoffmann und Keßler schöpft er aufschlussreiche Informationen zur Umsetzung der SED-Politik in den Streitkräften. Leider hat Bröckermann darauf verzichtet, mit diesen Quellen die SED-Perspektive auf die Ost-West-Konfrontation herauszuarbeiten. Die Teile seiner Arbeit, in denen er sich zunächst mit dem Entspannungsjahrzehnt (1969-1979), dann mit dem sogenannten Zweiten Kalten Krieg und schließlich mit der Endphase der SED-Herrschaft auseinandersetzt, sind die am wenigsten geglückten Passagen des Buches. Seitenlang stützt er sich dabei auf eine Handvoll westlicher Autoren, die wie Klaus Schwabe zwar manches Erhellende zur US-Politik dieser Zeit geschrieben haben, den Osten aber durchgängig nur aus zweiter Hand und als bloßen Gegenstand westlicher Diskurse wahrnehmen. Zentrale Begriffe der östlichen Politik, wie das nach der Konferenz von Helsinki forcierte Ringen um die Ausweitung der Entspannung auf die militärische Ebene, kommen so gar nicht erst vor. Dass bei einer stringenteren Nutzung von östlichen Quellen jedoch noch mit erheblichen Perspektivverschiebungen zu rechnen ist, wird nicht zuletzt am Begriff des Zweiten Kalten Krieges deutlich, den Honecker bereits sehr viel früher verwendete, als die mittlerweile eingebürgerte und auch von Bröckermann übernommene Ereignischronologie (ab 1979) vermuten lässt: Schon im Februar 1976 warnte der SED-Generalsekretär vor "einem 'zweiten kalten Krieg'". [4]
Die von Bröckermann verwendeten Periodisierungen erweisen sich auch bei der Analyse der "Sicherheitsarchitektur" als wenig hilfreich, da hier organische Zusammenhänge zerschnitten werden, ohne dass dies sachlich gerechtfertigt wäre. Insgesamt erscheint es auch wenig sinnvoll, die Militärgeschichte der DDR zeitlich anhand der Amtszeit der SED-Generalsekretäre zu gliedern. Schließlich war das Militärwesen das Politikfeld, auf dem die DDR am wenigsten souverän war und am stärksten der direkten Steuerung durch Moskau unterlag. Es wäre ergiebiger gewesen, das Thema nach der Amtszeit der sowjetischen Generalsekretäre zu gliedern und beispielsweise die Militärpolitik der DDR in der Breschnew-Ära zu untersuchen. So wird das von Breschnews Politbüro noch in den 1960er Jahren beschlossene und auch für die DDR verbindliche Aufrüstungsprogramm nirgendwo richtig konkret, da es vor Bröckermanns Untersuchungszeitraum liegt und bei Armin Wagner kaum Beachtung findet.
Schließlich erschweren noch formale Probleme die Lektüre: Zu nennen sind hier die allzu langen Absätze, die sich auf bis zu drei Seiten erstrecken und häufig Themensprünge enthalten, sowie die vielen schlecht konstruierten Sätze. Das recht flott geschriebene Kapitel zu den Führungsbunkern der DDR legt die Vermutung nahe, dass Bröckermann mit einem technischeren und weniger ausufernden Thema erheblich besser bedient gewesen wäre.
Anmerkungen:
[1] Klaus Naumann (Hg.): NVA: Anspruch und Wirklichkeit nach ausgewählten Dokumenten, Berlin / Bonn / Herford 1993.
[2] Otto Wenzel: Kriegsbereit. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR 1960 bis 1989, Köln 1995.
[3] Armin Wagner: Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR und seine Vorgeschichte (1953-1971), Berlin 2002.
[4] "Unsere Dokumente geben Antwort auf Fragen des Heute und Morgen", in: Neues Deutschland vom 16. Februar 1976, 4.
Michael Ploetz