János M. Bak / Jörg Jarnut / Pierre Monnet u. a. (Hgg.): Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.-21.Jahrhundert (= MittelalterStudien; Bd. 17), München: Wilhelm Fink 2009, 365 S., ISBN 978-3-7705-4701-2, EUR 39,90
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Paul Valéry hatte sicherlich Recht, als er davon sprach, die Geschichte sei das übelste Gift (le pire poison), das die Chemie des menschlichen Intellekts jemals erschaffen habe. Und tatsächlich: ein Blick auf die im vermeintlich aufgeklärten und säkularen ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert mit erstaunlicher Konsequenz gepflegte politische Instrumentalisierung von Siegen und Niederlagen zeigt, in welchem Maße Geschichte zur Legitimierung eigener militärisch-politischer Strategien missbraucht wurde und noch immer wird.
Diesen und anderen Fragen nach Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters vom 19. bis ins 21. Jahrhundert wurde auf einer im Jahr 2005 an der Central European University in Budapest veranstalteten Tagung nachgegangen. 22 Beiträge, zu denen eine Einführung von Pierre Monnet (15-21) und eine Zusammenfassung von Bernd Schneidmüller (337-344) treten, wurden in den vorliegenden Sammelband aufgenommen. Der Blick ist von wenigen Ausnahmen abgesehen eurozentrisch, richtet sich jedoch nicht so sehr auf die von der Historiographie ansonsten favorisierten "zentralen" Gebiete Frankreichs, Englands oder des Reichs, sondern auf die Randzonen, die erst nach den politischen Umwälzungen 1989 verstärkt ins Blickfeld einer breiteren (und nicht nur der historisch interessierten) Öffentlichkeit getreten sind.
Otto Gerhard Oexle behandelt in seinem Beitrag ("Das Mittelalter" - Bilder gedeuteter Geschichte, 21-43) fünf zentrale Fragen: 1. Was ist eine wissenschaftliche, was ist eine historische Erkenntnis?; 2. Epochen der Geschichte und ihr zentrales Problem: die Moderne und ihr Mittelalter; 3. Die Moderne und ihr Mittelalter. Visualisierungen aus dem 19. Jahrhundert; 4. Zur Typologie der Problemgeschichte "Die Moderne und ihr Mittelalter"; 5. Auf dem Wege zu einer Gedächtnisgeschichte des Mittelalters. Man hätte sich eine stärkere Einbindung eines oder mehrerer der von Oexle mit sicherem Gespür für die großen Zusammenhänge behandelten Problemkomplexe in die nachfolgenden Beiträge gewünscht, die allzu häufig bei der Sammlung und Beschreibung von Fakten ohne methoden- bzw. theoriegestützte Analyse stehen bleiben. Doch gibt es Ausnahmen.
Pavlína Rychterová untersucht die Millenniumsfeierlichkeiten, die die noch junge tschechoslowakische Republik unter ihrem Präsidenten Masaryk anlässlich des 1000. (vermeintlichen) Todestages des heiligen Wenzel ausrichtete (Mittelalterliche Hagiographie auf der Leinwand. Der Film Svatý Václav (1929) als gescheiterter Versuch, ein Nationaldenkmal zu konstruieren, 145-174). Die Aufgabe, der sich das Organisationskomitee gegenübersah, war zugegebenermaßen nicht einfach, ging es doch darum, einen katholischen Heiligen mit den Überzeugungen eines säkularisierten Staates (dessen erklärter Heiliger darüber hinaus ein mittelalterlicher Ketzer, Jan Hus, war) in Einklang zu bringen. Neben einer Fülle (ephemerer) Festivitäten setzte man auf zwei Projekte mit longue durée-Charakter, in die jeweils ähnlich viel Geld investiert wurde. Der Veitsdom auf der Prager Burg wurde vollendet und ein Spielfilm über den Heiligen Wenzel in Auftrag gegeben. Interessant sind hierbei nicht nur die Ausführungen zur Genese des Filmprojekts, sondern auch die Gründe, die letztendlich zu dessen Scheitern bzw. zur Nichtakzeptanz des vollendeten Films führten. Die republikanische Vereinnahmung des Heiligen scheiterte weniger an der Inkompetenz des Regisseurs und am Medium des Stummfilms selbst, sondern an der Missachtung symbolischer Bedeutungen und der transzendenten Dimension. Ein schwächlicher, in sich gekehrter Heiliger, der wie zufällig auch noch die Funktion des Herrschers innehatte, eignete sich kaum als Identifikationsfigur. Sein Charisma war nicht das eines modernen, politisch agierenden Staatsmannes: modernes staatsmännisches Handeln war mit der symbolischen Kodierung mittelalterlicher Semantik nicht in Einklang zu bringen.
Neven Budak beschreibt eindrücklich drei unterschiedliche Ebenen in der Verwendung bzw. Anverwandlung des Mittelalters während der 1990er Jahre in Kroatien (Using the Middle Ages in Modern-day Croatia, 241-262). Griff man auf der höchsten, den Präsidenten und seinen engsten Zirkel umfassenden Ebene zum Zwecke der politischen Legitimation auf eine Reihe frühmittelalterlicher Elemente aus der Zeit des ersten "kroatischen Staats" zurück, kümmerte man sich auf der Ebene der mittleren bzw. niederen Beamtenschaft weniger um das Mittelalter und seine Symbolik als um Persönlichkeiten bzw. Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit. Auf der dritten Ebene schließlich, derjenigen des "Volkes" mit seinen spezifischen Traditionen, verwendete man bereitwillig eine mittelalterliche Symbolik ohne sich freilich deren mittelalterlicher Herkunft bewusst zu sein: es ging darum, ein Symbolreservoir zum Zweck nationaler Selbstvergewisserung bzw. -identifikation zur Verfügung zu haben. Der Mythos des Wiederauflebens eines kroatischen Staats konnte durch den Rückgriff auf das (frühe) Mittelalter mit begründet werden. Seit der Jahrtausendwende wurde freilich ein anderer Aspekt wichtiger: Im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU sollte die Zugehörigkeit Kroatiens zur westlichen Zivilisation unter Beweis gestellt werden.
Einige Beiträge präsentieren sich in Form knapper Essays, in denen - ohne beschwerenden Fußnotenapparat - zumeist aus eigener Anschauung und Erfahrung heraus berichtet wird. Dazu gehören die Ausführungen von Andrei Pippidi, der sich mit der Gedenkpolitik in Rumänien auseinandersetzt und dabei einen Bogen vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein schlägt (Anniversaries, continuity and politics in Romania, 325-335). Man ist zwar mitunter versucht, die von Pippidi beschriebenen Versuche offizieller staatlicher Stellen zu belächeln, die glorreiche "rumänische Nation" auf die Dacier zurückzuführen, doch gefriert dieses Lächeln recht schnell. Patrick Gearys Bonmot "Das Mittelalter ist zurück. Aber das ist keine gute Nachricht" erweist sich vor diesem Hintergrund als ungemein scharfsinnig. Ceausescu - beeindruckt von der Gedenkfeier, die der Schah 1980 in Erinnerung an die Entstehung Persiens mit maximalem inszenatorischem Aufwand in Persepolis ausrichten ließ - veranlasste die Vorbereitung des 2050. Jahrestags der Gründung des dacischen Königtums, in dessen Traditionslinie er sich mit seiner Frau Elena einreihen wollte. Die Rolle der Diktatorengattinnen, die - zumeist über wenig mehr als eine rudimentäre Volksschulbildung verfügend - sich an der Spitze von Wissenschaftsakademien oder Volksbildungsministerien eingerichtet hatten und dort ihr Unwesen trieben, hätte einen gesonderten Blick verdient gehabt.
So sehr die Ausführungen zur Situation in Serbien, Rumänien, Kroatien und anderen Regionen Ostmitteleuropas unsere Kenntnis von Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters durch zum Teil herausragende Fallstudien erweitern: man bedauert, dass sich lediglich zwei Beiträge programmatisch mit der zentralen Grundsatzfrage auseinandersetzen, wie Ge- und Missbrauch trennscharf voneinander geschieden werden können. Neben O. G. Oexle ist hier Guy P. Marchal zu nennen, der in seinem Beitrag (Mittelalter und nationale Identität am Beispiel der Schweiz. Hinweise zur Semiotik des politischen Diskurses, 95-107) von zwei Beobachtungen ausgeht: 1. das Mittelalter spielt im öffentlichen politischen Diskurs der Schweiz nach wie vor eine große Rolle; 2. diese Rolle gründet in einem imaginaire historique, das mitunter konträr zu den von der Historiographie vermittelten Inhalten stehen kann. In der Schweiz ist tatsächlich nicht nur eine "invention of tradition", sondern auch eine jahrhundertealte "tradition of invention of tradition" zu beobachten. Die Kombination von Geschichte und nationaler Identität unter Einsatz von Mythen und neu konstruierten Geschichtsbildern liefert "Gebrauchsgeschichte par excellence" (106). Leider gibt es keinerlei objektive Kriterien, die eine Aussage darüber gestatten würden, ob diese "Gebrauchsgeschichte" nun unter den Rubriken Ge- bzw. Missbrauch verbucht werden kann. Im Kraftfeld nationaler Identitätspräsentation gibt es keine Ethik des Einsatzes von Mythen und Geschichtsbildern. Sie sind grundsätzlich ungeschützt und frei abrufbar. Vor diesem Hintergrund muss es Aufgabe des Historikers sein, aufzuzeigen "dass die Bezüge auf das Mittelalter immer zeitbedingt und interessenbezogen waren und sind und vor allem wie sie es waren und sind." (107)
Geschichte - Bernd Schneidmüller weist in seiner Zusammenfassung zu Recht darauf hin - wird beständig neu komponiert und von jeder Zeit umgeschrieben. Was Gebrauch und Missbrauch ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund eines stetem Wandel unterworfenen Koordinatensystems von Wahrheit und Wirklichkeit entschlüsseln - doch divergieren auch hier die Vorstellungen darüber, was als Gut oder Böse in der Geschichte zu gelten hat, beständig.
Ralf Lützelschwab