Michael Gehler / Rudolf Agstner (Hgg.): Einheit und Teilung. Österreich und die Deutschlandfrage 1945-1960. Eine Edition ausgewählter Akten. Festgabe für Rolf Steininger zum 70. Geburtstag, Innsbruck: StudienVerlag 2013, 560 S., ISBN 978-3-7065-5215-8, EUR 49,90
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Als die österreichische Delegation unter Führung von Bundeskanzler Julius Raab im April 1955 nach Moskau reiste, um über den Staatsvertrag zu verhandeln, fanden die Gespräche in einer bemerkenswert gelösten Atmosphäre statt. In der Mittagspause des zweiten Verhandlungstages brachte Außenminister Leopold Figl ein "Waidmannsheil" aus und wünschte sich gar, "bei diesem Trank seinen Arm in den von Molotow einzuhängen", der jedoch nicht "mit[tat]" (273), wie Vizekanzler Adolf Schärf in seinen Notizen festhielt. Dafür stieß Nikita Chruschtschow tags darauf auf das "Wohl der österreichischen Sozialdemokratie" an. Von Bruno Kreisky gefragt, "ob wir das in Österreich erzählen [können], daß Sie auf unser Wohl getrunken haben", antwortete der Sowjetführer: "Ja, aber mit dem Zusatz - in Ihrem Kampf gegen den Kapitalismus" (277).
Ganz anders die aufgewühlten Verhandlungen, die Konrad Adenauer wenige Monate später, im September 1955, am gleichen Ort führte. Sie waren "gekennzeichnet durch die rasche Abfolge massiver Angriffe und grober Beschuldigungen mit nachträglichen Entschuldigungen, Beschwichtigungen und Gesten der Versöhnlichkeit" (322) - so der Wortlaut einer Aufzeichnung, die das Auswärtige Amt dem österreichischen Botschaftsrat in Bonn, Erich Pichler, "streng vertraulich" (318) aushändigte.
Diese beiden Reiseberichte aus Moskau gehören zu den Spitzendokumenten der Edition Österreich und die Deutschlandfrage 1945-1960, die größtenteils aus den hierauf bezogenen Berichten der Wiener Konsulate und Botschaften in Ost und West besteht. Herausgegeben zum 70. Geburtstag des Zeithistorikers Rolf Steininger, ist der Band mit dem treffenden Begriffspaar "Einheit und Teilung" betitelt, schließlich brachte das Jahr 1955 den Österreichern ihren Staatsvertrag und den Abzug der Besatzungstruppen, während die Bundesrepublik zwar die (weitgehende) staatsrechtliche Souveränität erhielt, Deutschland als Ganzes jedoch noch auf Jahrzehnte hinaus geteilt blieb.
Wie sehr der Staatsvertrag das Verhältnis zwischen Bonn und Wien belastete, zeigen die hier erstmals abgedruckten Berichte der österreichischen Vertretungsstelle in der Bundesrepublik. Im März 1955 wurde der Ballhausplatz über die Sorge des Auswärtigen Amtes informiert, der Kreml werde die Neutralitätslösung für Österreich "zu einem Modellvertrag für künftige Verhandlungen über Deutschland stempeln" (252). Hierzu war die Sprachregelung in Wien allerdings eindeutig: "Wir haben Verständnis für die Bedenken der deutschen Bundesregierung. Man muß jedoch begreifen, daß die [österreichische] Bundesregierung vor allen anderen Erwägungen die naheliegenden Interessen Österreichs vertreten muß." (257) Deshalb, aber auch wegen der aus Bonner Sicht ungünstigen Regelung der Eigentumsfrage im Staatsvertrag, sprach Adenauer intern von der "ganzen österreichischen Schweinerei". [1] Erst die Reise des Österreichfreundes Heinrich von Brentano nach Wien im November 1955 brachte eine gewisse Entspannung.
Die Dokumente handeln nicht nur von der "deutschen Frage" als Problem der staatlichen Teilung Deutschlands, sondern bezeugen auch die ureigenste "Deutschlandfrage" der Österreicher selbst, also ihre Sorge vor einem neuerlichen "Anschluss" und ihre Selbststilisierung zum ersten Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik. Im März 1953 verfasste Generalkonsul Josef Schöner eine Expertise über die "psychologische Einstellung in Deutschland gegenüber Österreich", die zu dem Schluss kam, dass die "breite Masse" der Deutschen die österreichische Unabhängigkeit seit 1945 "noch immer nicht richtig zur Kenntnis genommen" habe und den kleinen Nachbarn als ein "mit Gewalt weggenommenes Stück Deutschland" (196) betrachte. Anscheinend war man sich in den politischen Kreisen Wiens aber auch der Staatsgesinnung im eigenen Lande nicht ganz sicher. In dieser Hinsicht geriet der "Höflichkeitsbesuch" (416) Adenauers in Wien 1957 zu einem Lackmustest. Nach Beendigung des Programms bilanzierte man am Ballhausplatz sichtlich erleichtert, der Bundeskanzler sei zwar "von der Bevölkerung herzlich begrüßt" worden: "Doch dürften diese spontanen Beifallskundgebungen keinesfalls als politische prodeutsche Demonstrationen aufgefaßt werden. Hysterische 'Heil-Deutschland'-Rufe [...] waren nur vereinzelt zu bemerken und es haben nie mehr als etwa 2, 3 Leute derartige emotionelle Demonstrationen gemacht" (414).
Wie hier schon deutlich wird, enthält der Band eine Fülle aufschlussreicher Einsichten in die komplexe Gemengelage der deutsch-österreichischen Nachkriegsbeziehungen und ist mit großem Gewinn zu lesen. Eine umfassende wissenschaftliche Aufbereitung der vornehmlich aus dem Archiv der Republik im Österreichischen Staatsarchiv ausgewählten 230 Dokumente war den Herausgebern indes wohl kein vorrangiges Anliegen. Dass die eingangs erwähnten Moskauer Aufzeichnungen von 1955 bereits in großen Teilen veröffentlicht worden sind [2], ist nicht nachgewiesen. Die spärlich gesetzten Anmerkungen beschränken sich auf Informationen allgemeiner Art oder verweisen bei Namensnennungen nur auf das biographische Personenregister. Der mit den historischen Details weniger vertraute Leser wird daher zusätzlich auf die einschlägige Forschungsliteratur [3] zum Thema zurückgreifen müssen, an der Rolf Steininger einen maßgeblichen Anteil besitzt. [4]
In der Tat ist die Edition eine thematisch passende Festgabe für den gebürtigen Westfalen, der seit fast drei Jahrzehnten von Innsbruck aus zur deutschen und österreichischen Zeitgeschichte arbeitet, in jüngerer Zeit aber auch globale Themen vom Korea-Krieg bis zum Nahostkonflikt aufgreift [5] und umfangreiche Editionen herausgibt. [6] Bekannt für seinen Hang zur zugespitzten These, verfuhr Steininger in vielen Forschungsdebatten nach dem Motto "'Viel Feind, viel Ehr'" (27), wie Michael Gehler in seiner launigen Laudatio anmerkt. Es bleibt das beeindruckende und immens umfangreiche Werk eines Kenners der internationalen Archivlandschaft, in Fachkreisen sogar als "king of the documenters" [7] tituliert, von dem man sicherlich auch künftig noch hören wird.
Anmerkungen:
[1] Zitiert nach Hans-Peter Schwarz: Adenauer. Der Staatsmann 1952-1967, Stuttgart 1991, 184.
[2] Vgl. Karl R. Stadler: Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann, Wien 1982, 427-439; Besuch Bundeskanzler Adenauers in Moskau. 8.-14. September 1955, Dokumente und Materialien, hrsg. vom Auslandsbüro Russland der Konrad-Adenauer-Stiftung, Moskau 2005, 116f., 129f., 160ff., 162ff., 182ff.
[3] Vgl. mit durchaus unterschiedlichen Interpretationen und Akzentsetzungen Michael Gehler u. a. (Hgg.): Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996; Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945-1965, Köln u. a. 2000; Michael Gehler / Ingrid Böhler (Hgg.): Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck u. a. 2007.
[4] Vgl. besonders eingängig Rolf Steininger: Der Staatsvertrag. Österreich im Schatten von deutscher Frage und Kaltem Krieg 1938-1955, Innsbruck u. a. 2005.
[5] Vgl. Rolf Steininger: Der vergessene Krieg. Korea 1950-1953, München 2006; ders.: Der Nahostkonflikt, überarb. und akt. Neuausgabe Frankfurt a. M. 2012.
[6] Vgl. Rolf Steininger (Hg.): Berichte aus Israel. Die Berichte der diplomatischen Vertreter Österreichs in Israel, 13 Bde., München 2004; ders. (Hg.); Akten zur Südtirol-Politik 1959-1969, 8 Bde., Innsbruck u. a. 2005-2013.
[7] I. D. Turner (ed.): Reconstruction in Post-War-Germany. British Occupation Policy and the Western Zones, 1945-1955, Oxford 1989, 334; vgl. darauf Bezug nehmend auch Rudolf Morsey: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, 5. durchgesehene Aufl. München 2007, 139.
Holger Löttel