Michael Gehler / Marcus Gonschor / Hinnerk Meyer u.a. (Hgg.): Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten und Konservativen. Dokumente 1965-1979, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017, 2 Bde., LXXXII + 1721 S., 4 Farb-, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-031251-5, EUR 289,00
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Gehören die Konservativen zu den Christdemokraten? Vor allem italienische und niederländische Christdemokraten, aber auch belgische und französische besaßen in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren eine eindeutige Position: Nein. Schließlich seien die konservativen Parteien Großbritanniens und Skandinaviens nicht explizit christlich inspiriert. Darüber hinaus, und dies war wohl entscheidend, seien die Unterschiede in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu groß, die Privatinitiative werde von den Konservativen zu sehr privilegiert. Ferner hegten die Konservativen eine Abneigung gegen Planung und Mitbestimmung. Bernhard Gebauer, Leiter der Politischen Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung Schloss Eichholz, der 1972 dieses Memorandum erstellt hatte, fügte im Blick auf die CDU noch treffend hinzu: "Im Grunde genommen gelten ja die Vorbehalte gegen den Begriff 'konservativ' auch in unserer Partei, was meines Wissens nur die wenigsten zu der Konsequenz veranlasst, mit den Konservativen nicht zusammenarbeiten zu wollen." [1] Darin zeigte sich die stärker pragmatische Haltung der deutschen Unionsparteien. Angesichts der kommunistischen Bedrohung, der wachsenden Stärke von sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und der Integration (West-)Europas wollte man alle Kräfte der rechten Mitte sammeln. Im "sozialdemokratischen Jahrzehnt" (Bernd Faulenbach) verstärkte sich bei den Unionsparteien dieser Wunsch noch.
Einstweilen setzten sich aber die Bedenkenträger aus dem Süden und Westen Europas durch. Im ersten "schwarzen" europäischen Parteienzusammenschlusses, den Nouvelles Equipes Internationales (NEI), die 1947 wesentlich auf schweizerische Initiative entstanden waren, hatte es sogar noch Vorbehalte gegen die Aufnahme der Unionsparteien gegeben. Jetzt waren die italienischen Christdemokraten so stark und linkskatholisch ausgerichtet, dass sich die Union nicht durchsetzen konnte. Die NEI waren dann im malerischen Taormina auf Sizilien Ende 1965 zur Europäischen Union Christlicher Demokraten (EUCD) umgeformt worden. Auch hier blieben die sich explizit als konservativ verstehenden Parteien außen vor. In der 1976 gegründeten Europäischen Volkspartei (EVP) wurden dann die christdemokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaften (EG) enger zusammengeschlossen. Gaullisten, Tories und Christdemokraten aus Nicht-EG-Staaten mussten draußen bleiben. Erst mit der 1978 gegründeten Europäischen Demokratischen Union (EDU) konnten die österreichischen Christdemokraten, von ihren deutschen Kollegen vorgeschickt, dann eine antikommunistische, marktwirtschaftlich orientierte Parteienkooperation in Europa schmieden, die Briten und Skandinavier an Bord holte. Auf der Gründungstagung formulierte die britische Oppositionsführerin Margaret Thatcher das Narrativ der EDU "Wir sind hier von einer gemeinsamen Drohung zusammengebracht worden - der Drohung des Marxismus gegen die Freiheit. Diese Drohung ist nicht auf die Europäische Gemeinschaft beschränkt und darum reicht auch unser Bündnis über die Grenzen der Gemeinschaft." [2]
Nachdem Herausgeber Michael Gehler 2004 in anderer Konstellation bereits eine umfangreiche Quellensammlung zur christdemokratischen Parteienkooperation 1945 bis 1965 herausgegeben hat [3], wurden im Titel der neuen, nun zweibändigen, bis 1979 reichenden Edition die Konservativen mit aufgenommen. Dass dies inhaltlich keine Präskription für die folgende Zeit sein kann, zeigt die weitere Entwicklung bis hin zum Brexit und zur Abstoßung der Konservativen von der CDU in den Merkel-Jahren.
Michael Gehler, seine Doktoranden und der stellvertretende Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Institutes, Hannes Schönner, der auch eine sehr ausführliche Zeitleiste zur Edition beigesteuert hat, haben 372 Dokumente aus dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) in St. Augustin, dem Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP) in München, dem Archiv des Karl von Vogelsang-Institutes (KvVI) in Wien, dem Documentatie-en-Onderzoekscentrum voor Religie, Cultuur en Samenleving (KADOC) in Leuven, dem Bundesarchiv (BArch) in Koblenz, dem Archivio Storico des Istituto Luigi Sturzo in Rom und dem Privatarchiv Henning Wegeners (ehemals Leiter des Büros für Auswärtige Beziehungen der CDU) ausgewählt. Die Dokumente haben die Herausgeber mustergültig mit Quellennachweisen, Zusammenfassung und Anmerkungen in den Originalsprachen - Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch - ediert. Es handelt sich dabei um Protokolle, Reden, Briefe, Berichte und einige gedruckte Quellen. Die Dokumente werden durch eine Übersicht und ein Personenregister gut erschlossen. Angesichts des hohen Preises wäre es verlagsseitig angemessen gewesen, der Printausgabe auch die ebenfalls erwerbbare digitale Version direkt beizugesellen. So werden die Hauptabnehmer der Edition, Bibliotheken und Archive, zwischen der Print und der digitalen Version wählen müssen. Die umfangreiche Einleitung enthält konzise Darstellungen der nationalen Entwicklungslinien der jeweiligen christdemokratischen oder konservativen Parteien und Parteifamilien.
Gehler und sein Team knüpfen mit ihrer stupenden Edition nicht nur an eigene Forschungen, sondern an einen kleinen Trend der Zeitgeschichtsforschung an, welche die "Internationale der Konservativen" zuletzt in den Blick genommen hat. [4] Die Edition bietet aber auch für ganz andere Fragestellungen Material, etwa für die Wahrnehmung und Begleitung der Transformationen auf der iberischen Halbinsel, für die Religionsgeschichte und nicht zuletzt für die Vorgeschichte des Euro.
Welcher Eindruck bleibt? Europäische Christdemokraten und Konservative verbindet seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein stets spannungsreiches Verhältnis. Die Zusammenarbeit zwischen den Mitte-Rechts-Parteien verlief weder innerhalb der verschiedenen Bündnisse und Zusammenschlüsse noch zwischen diesen reibungslos. Unterschiedliche nationale und ideologische Traditionen führten zu Konflikten. Insofern spiegeln diese transnationalen Parteienkooperationen gerade auch bei den Parteien, die wesentlich die europäische Integration vorantrieben, deren Probleme und Friktionen wider.
Anmerkungen:
[1] Dokument 87: Bernhard Gebauer an Kai-Uwe von Hassel, 8.2.1972, im vorliegenden Werk Bd. 1, 557.
[2] Dokument 300: Margaret Thatcher, "Ein Bündnis für die Freiheit", 24.4.1978, im vorliegenden Werk Bd. 2, 1357.
[3] Michael Gehler / Wolfram Kaiser (Hgg.): Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten: Dokumente 1945-1969, München 2004.
[4] Johannes Großmann: Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014.
Peter Hoeres