Elke Scherstjanoi (Hg.): Russlandheimkehrer. Die sowjetische Kriegsgefangenschaft im Gedächtnis der Deutschen (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2012, VI + 264 S., zahlreiche s/w-Abb., ISBN 978-3-486-70938-4, EUR 44,80
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Nach der Veröffentlichung ihrer Sammlung von Erlebnisberichten deutscher Kriegsgefangener [1] hat Elke Scherstjanoi einen Sammelband herausgegeben, der die Beiträge einer Tagung zum Thema Kriegsgefangenschaft und kollektives Gedächtnis aus dem Jahr 2008 zusammenfasst. Der Band enthält 13 Aufsätze, von denen einer der sowjetisch-russischen Perspektive gewidmet ist. Im Zentrum der Betrachtung steht die Vielfalt der Erzählungen, der "Bildformung und Kommunikation" über das Schicksal der Russlandheimkehrer (3), die sich nach 1945 in Ost- und Westdeutschland entwickelt hat. Aber eigentlich reicht der zeitliche Bogen noch weiter, da ein Aufsatz die Erzählungen über die Kriegsgefangenschaft des Ersten Weltkriegs problematisiert, die in den Weimarer Jahren verfasst und verbreitet wurden; dieser Beitrag verweist auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen der Kriegsgefangenschaft in Russland beziehungsweise der UdSSR nach 1914 und nach 1941. Der Sammelband unterstreicht die Multiperspektivität des Themas und ist darum bemüht, die zahlreichen damit verbundenen Kommunikationsfelder abzudecken: von der Literatur zum Film, vom Vereinswesen zur Selbstwahrnehmung der Betroffenen.
Elke Scherstjanoi eröffnet den Sammelband mit einer Einführung, in der sie exemplarisch einige Bilder analysiert, in denen die Erfahrungen der Russlandheimkehrer gleichsam geronnen sind. Dabei hebt sie die tiefgehenden Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Bilder in den Jahren vor und nach 1990 hervor. Vor dem Fall der Mauer dominierten Klischees, die das politisch-kulturelle Klima des Kalten Kriegs widerspiegelten; erst danach kam es zu einer gewissen "Versachlichung der Bilder und Argumente" (20). Die Herausgeberin hat in ihrer Einleitung weitgehend auf Daten und Fakten verzichtet, die es erleichtert hätten, die Beiträge zu kontextualisieren und dem Leser einen besseren Zugang zum Thema des Sammelbands zu eröffnen. Diese Entscheidung ist bedauerlich, da der Leser unvorbereitet gleichsam mitten ins Geschehen geworfen wird.
Auch der zweite Beitrag stammt aus der Feder der Herausgeberin, die sich dabei auf eine Reihe von Zeitzeugeninterviews bezieht. Sie betont die Bildervielfalt, die aus diesen Anfang der 2000er Jahre gesammelten Erzählungen spricht. Interessant scheint mir besonders die Gewichtung des Faktors Zeit: Der Zeitpunkt der Gefangennahme spielte eine bedeutende Rolle in der Selbstwahrnehmung, ebenso der Dienstrang. Die von Scherstjanoi befragten Zeitzeugen waren einfache Soldaten, und ihre Erzählungen unterscheiden sich deutlich von den Erzählungen von Offizieren, die den Diskurs im Kalten Krieg prägten. Dagegen ist die Provenienz des Erzählers nicht so wichtig, wie man annehmen könnte. Ostdeutsche und westdeutsche Männer erzählen ihre Erfahrungen in ähnlicher Weise. Abschließend betont die Herausgeberin, dass die aktuellen Schilderungen viel von der Opferrhetorik der ersten Nachkriegsjahrzehnte verloren haben.
Interessant ist der folgende Beitrag von Philipp Stiasny über die Weimarer Jahre, und zwar vor allem deshalb, weil man über diese Welle von Erzählungen und Bilderformungen wenig weiß. Dabei zeigt der Aufsatz, dass diese erste Erfahrung der Kriegsgefangenschaft (in Buch und Leinwand) mehr dem Weg des persönlichen Dramas folgt, ohne die ideologischen Konturen zu betonen, die nach 1945 lange Zeit vorherrschend waren. Die folgenden Beiträge von Birgit Schwelling und Andrea von Hegel beschäftigen sich mit den Erzählungen von Kriegsgefangenschaft und Heimkehr, die vom wichtigsten Verband konstruiert worden sind, der die Interessen der Betroffenen in der Bundesrepublik vertreten hat - Erzählungen, die stark vom politisch-kulturellen Klima des Kalten Kriegs beeinflusst waren. Die Meistererzählung schildert eine doppelte Opfererfahrung: zuerst das Lager, dann - nach der Heimkehr - ein fremd gewordenes Land. Die Mitglieder des Verbands der Heimkehrer stilisierten sich dennoch zu idealen Bürgern des neuen (west)deutschen Staates. Beide Aufsätze betonen zugleich, dass der Verband nie kritische Stellung zu Krieg und Nationalsozialismus genommen hat.
Die nächsten Beiträge behandeln das reichhaltige Schrifttum über die Kriegsgefangenschaft - von Memoiren bis zu fiktionalen Erzählungen. Überwiegend literaturwissenschaftlich angelegt, zeichnen sie ein "sehr viel nuanciertes" (103) Bild, "als das Klischee der restaurativen Adenauer-Jahre erwarten lässt". Jedoch ist das Narrativ vom unschuldigen Opfer das erfolgreichste, wie die Erfolge von Heinz G. Konsaliks "Der Arzt von Stalingrad" als Buch und Film beweisen. Der Beitrag von Leonore Krenzlin über die DDR-Literatur, der grundsätzliche Unterschiede zum zeitgleich dominierenden westdeutschen Bild der Kriegsgefangenschaft hervorhebt, zeigt ebenfalls Nuancen und von der "herrschenden Lehre" abweichende Deutungen, wie sie bei Autoren wie Hermann Kant oder Franz Fühmann aufscheinen. Eine gewisse Vielfalt, die den traditionellen Geschichtsbildern widerspricht, spricht auch aus Ralf Schenks Aufsatz "Was das DEFA-Kino nach 1945 über Krieg und Kriegsgefangene zu erzählen wusste".
Elke Scherstjanoi, die noch einen dritten Beitrag zu ihrem Sammelband beigesteuert hat, analysiert anschließend die Bilder von sowjetischen Ärztinnen in den Erzählungen der Zeitzeugen, die sie in den letzten Jahren gesammelt hat - Bilder, die sich von den gängigen Klischees aus dem Kalten Krieg stark unterscheiden. Der letzte Aufsatz von Elena Müller bezieht sich auf die Darstellung deutscher Kriegsgefangener in sowjetischen/russischen Spielfilmen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute. Diese Ausführungen ermöglichen freilich keinen echten Vergleich zwischen deutschen und sowjetisch-russischen Narrativen, weil sie kaum auf die anderen Beiträge des Sammelbands Bezug nehmen.
Damit ist bereits eine Schwäche des Buches benannt: die fehlende Homogenität, die vielen Publikationen dieses Genres eigen ist. Auch lassen sich einige "weiße Flecken" ausmachen: So fehlt eine vergleichende Analyse des Verbands der Heimkehrer und anderer Veteranenverbände, die angesichts der Bedeutung dieser Organisationen in den ersten Jahren der Bundesrepublik besonders interessant gewesen wäre. Alles in allem liefert der Sammelband jedoch spannende und zum Teil originelle Beiträge zu einer nuancierteren, tiefgehenderen Betrachtung der Bilder und Selbstbilder, die in Ost und West von Intellektuellen, Bürokraten und Betroffenen generiert wurden, um mit den tragischen Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft "abzurechnen" und zugleich die eigene Existenz zu legitimieren.
Anmerkung:
[1] Vgl. Elke Scherstjanoi (Hg.): Wege in die Kriegsgefangenschaft. Erinnerungen und Erfahrungen deutscher Soldaten, Berlin 2010.
Gustavo Corni