Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität, Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen 2011, 462 S., ISBN 978-3-458-71033-2, EUR 32,90
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"Der Islam" steht Demokratie und Menschenrechten entgegen, Frauen und Homosexuelle werden im "Islam" unterdrückt und so weiter. Eine solche Liste von Vorurteilen ließe sich sicher noch erweitern und es scheint auch nicht an Beispielen aus irgendeinem Land der Welt zu fehlen, um solche Vorwürfe zu untermauern, seien es blutrünstige Todesurteile der Taliban oder auch so genannte "Ehrenmorde" muslimischer Einwanderer in Deutschland.
"Dem Islam" wird viel zugeschrieben, weil wir offenbar bei Muslimen eine höhere Religiosität vermuten als bei anderen Menschen; und daher sucht man in der Religion eine Erklärung für all das, was Muslime generell tun und machen. Ganz selbstverständlich sprechen die Medien und Orientalisten von der "islamischen Welt", erachten den Begriff "christliches Abendland" aber als überholt.
Dass dieser Blickwinkel grundlegend überdacht werden sollte, legt Thomas Bauer in seinem Buch "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte der Islams" anschaulich dar. Der Begriff "Ambiguität" umschreibt die Mehrdeutigkeit von sprachlichen Aussagen, Symbolen und Handlungen. In der Psychologie unterscheidet man zwischen ambiguitätstoleranten Personen, die Gegensätze und Mehrdeutigkeiten gut akzeptieren oder gar als Bereicherung verstehen, und ambiguitätsintoleranten Personen. Letztere neigen zum Schwarz-Weiß-Denken und zu radikalen Vorstellungen. Der Autor übernimmt dieses Konzept für seine "kulturhistorische Darstellung" der Entwicklung in den islamisch geprägten Regionen vom 9. bis ins 19. Jahrhundert. (14) Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern von religiösen zu weltlichen Themen und eröffnet so ein Bild der islamischen Welt, das von Toleranz, Vielfalt und geistiger Freiheit geprägt war und diametral dem entgegensteht, was der Westen "dem Islam" heute vorwirft.
Rund ein Drittel des über 400 Seiten starken Buches ist ausschließlich der Religion gewidmet. Dabei arbeitet Bauer gut heraus, dass Vielfalt stets als Bereicherung empfunden wurde. So gab es zahlreiche Varianten des mündlichen Vortragens des Korans, was viele Gelehrte dazu animierte Werke über Koranlesarten zu verfassen. Die Frage nach der einen richtigen Lesart wurde indes nie gestellt, vielmehr verstand man diese Variantenvielfalt als Gnade Gottes. Auch bei der Deutung der einzelnen Verse legte man keinen Wert auf Einstimmigkeit, bei klassischen Korankommentaren standen oft mehrere unterschiedliche Interpretationen nebeneinander. Den Autoren solcher Werke schien bewusst zu sein, dass: "jede Auslegung nur Wahrscheinlichkeit, nicht aber Gewissheit beanspruchen kann [...]". (123) Ähnlich verhielt es sich bei den Ḥadīṯen, den überlieferten Aussprüchen und Handlungen des Propheten. Auch der Umstand, dass mehrere Rechtsschulen anerkannt wurden, zeugt von der Akzeptanz verschiedener Lehrmeinungen. Bauer legt auch schlüssig dar, dass das "islamische Recht" größtenteils einer weltlichen Rechtsfindung entsprang und ihm daher auch kein sakraler Wert beigemessen wurde.
Anschließend geht der Autor mehr auf weltliche Themen ein: "wobei das Scharnierkapitel Sechs (»Die Islamisierung des Islams«) ein Plädoyer dafür ist, der islamischen Kultur keine prinzipiell höhere Religiosität zu unterstellen als anderen Kulturen." (14) Bauer beschreibt, wie europäische Orientalisten konsequent alle Bereiche des Lebens als "islamisch" titulierten und damit die hohe Differenzierung der nahöstlichen Gesellschaften ignorierten. So wurde beispielsweise pauschal von "islamischer Kunst" gesprochen, auch wenn die Kunstwerke und kunsthandwerklichen Gegenstände ohne jegliche religiöse Motivation hergestellt wurden oder ihre Erschaffer gar einer anderen Religion angehörten. Auch der Begriff "islamische Medizin" ignoriert das Nebeneinander verschiedener Diskurse über Heilmethoden. Dabei gab es eine wissenschaftliche Medizin, deren Arzneien und angewandten Therapien allein auf Erfahrungswerten beruhten und keinen islamischen Hintergrund hatte. Vielmehr basierte sie auf den Theorien des heidnischen Arztes Galen (129-216 n. Chr.) und orientierte sich an den moralischen Grundsätzen des Hippokrates (gest. um 370 v. Chr.). Daneben gab es eine religiöse Medizin, die ihre Methoden aus den Ḥadīṯen ableitete und schließlich eine volkstümliche magische Heilkunst, die religiöse Formeln anwendete.
Dieses Buch macht deutlich, dass im Nahen Osten die Dichotomie religiös/säkular keine große Rolle spielte, denn hier konnten sich gesellschaftliche Diskurse, etwa über Medizin, Recht, Politik usw., entwickeln, ohne sich von einer kirchlichen Definitionshoheit befreien zu müssen. Zu Recht spricht sich der Autor auch dagegen aus, jeden Bereich "auf dem sich religiöser Feinstaub abgesetzt hatte" (201) pauschal als "islamisch" zu bezeichnen. So erschufen einige Historiker einen "Phantasy-Islam", weil sie den religiösen Elementen stets eine höhere Bedeutung beimaßen. Auch heutige westliche Medien neigen dazu, allem den Stempel "islamisch" aufzudrücken und damit die islamische Welt in ein "religiöses Monstrum" (220) zu verwandeln. Diese Zuschreibung hat die westliche Politik stets für ihre Zwecke genutzt: "Sowohl im kolonialen Diskurs der Vergangenheit als auch im politischen der Gegenwart ist die »Islamisierung des Islams« das Hauptinstrument, mit dem der Gegner verfremdet wird." (219) Dieses westliche Zerrbild deckt sich fatalerweise mit den ideologischen Vorstellungen des Islamismus, wodurch dieser wiederum für den Westen als das ungeschminkte Wesen "des Islams" erscheint.
Um diesem Bild entgegenzuwirken, widmet der Autor die zweite Hälfte des Buches weltlichen Themen. Zunächst geht er auf die Literatur ein und beschreibt, wie sich das Arabische im Reich der Umayyaden in nur wenigen Jahrzehnten als Amtssprache durchsetzte. Die Faszination für die Sprache ließ eine für die damalige Zeit beispiellos ausgeprägte Sprachwissenschaft entstehen. Besonderes produktiv war die Dichtkunst, welche eine große Vorliebe für Doppeldeutigkeiten entwickelte. An zahlreichen Beispielen demonstriert Bauer, wie selbst Religionsgelehrte über die Vorzüge des Weingenusses, Lust und Erotik schrieben. Solche klaren Widersprüche zu religiösen Normen verdeutlichen die Ambiguitätstoleranz jener Zeit und spiegeln die Einsicht wider, dass das Leben immer mehrere Seiten hat. Die europäische Orientalistik hingegen verstand die Ambiguität in der arabischen Literatur nicht als Kunstfertigkeit, sondern als dekadente Wortspielerei und Beleg für den kulturellen Niedergang.
Die Ambiguitätstoleranz der islamischen Welt nahm in den letzten 150 Jahren allerdings drastisch ab. Der Autor erklärt dies als eine Reaktion auf den Westen, der dazu neigt, andern Völkern seine ambiguitätsfeindlichen Diskurse aufzudrängen. Der Westen war überzeugt, und ist es noch heute, dass seine Werte universale Gültigkeit haben und sieht es als seine Aufgabe diese in die Welt hinauszutragen.
Bauer macht dieses Phänomen am Thema der "Sexualität" gut deutlich. Denn hinter diesem Begriff verbirgt sich ein ganzer Kanon westlicher Moralvorstellungen. Die Kirche verstand jede Art der sexuellen Lust als Sünde und die Aufklärung übersetzte "Sünde" mit "unnatürlich". In der islamischen Welt hingegen herrschte ein sehr ungezwungenes Verhältnis zur menschlichen Lust, was in einer Fülle von Texten gut dokumentiert ist. Auch mit Mann-männlichem Begehren wurde recht unbeschwert und sehr humorvoll umgegangen, was Bauer an einigen Liebesgedichten demonstriert. Im 19. Jahrhundert exportierten die Kolonialmächte ihre prüde viktorianische Sexualmoral in die islamische Welt und bezeichneten alles, was dieser Moral nicht entsprach, als krankhaft. Wegen seiner technischen und militärischen Dominanz erachtete der Westen auch seine Werte als überlegen. Orientlisten sahen in der freizügigen Sexualität gar einen Grund für den Niedergang der islamischen Welt - und ausgerechnet im Westen so beliebte Intellektuelle wie Ṭāhā Ḥusain oder AḤmad Amīn teilten diesen Vorwurf. Die Tradition der Liebesgedichte an Männer brach daraufhin abrupt ab und die "Homophobie" als westliches Exportgut wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts übernommen. Und heute wirft der Westen "dem Islam" vor, zu repressiv gegenüber Homosexuellen zu sein, ohne zu bemerken, dass diese Prüderie aus dem Westen selbst stammt.
Der Forschungsansatz, die kulturelle Ambiguitätstoleranz zu untersuchen, verdeutlicht ferner, dass anders als in Europa, neben der Religion konfliktlos auch andere Diskurse existieren konnten. Während in Europa Machiavellis Schrift Il Principe auf den Index gesetzt wurde, weil sein Herrschaftskonzept dem kirchlichen Weltbild widersprach, führte man in der islamischen Welt seit jeher ein Diskurs über Macht und Herrschaft, frei von religiösen Normen. Die Herrschaftsratgeber und Lobgedichte von Ibn Nubāta al-Miṣrī (1287-1366) oder das geschichtsphilosophische Weltbild von Ibn Ḫaldūn (1332- 1406) enthielten keine Lehren aus dem Koran. Beide Autoren wurden viel gelesen, genossen großes Ansehen und selbst die Religionsgelehrten fanden keinen Anstoß an ihren Schriften. Thomas Bauer verdeutlicht mit diesen Ausführungen, dass es im Gegensatz zu Europa keiner Renaissance und Aufklärung bedurfte, um säkularen Ideen den Weg zu bereiten. Wenn nun der Säkularismus mit dem Islam vereinbar war, spricht nichts dafür, dass die Demokratie es nicht sein sollte. Die Demokratie ist "die größte Errungenschaft in Sachen Ambiguitätstoleranz" (403), die der Westen geleistet hat. Der Weg zur Demokratie war aber von zahllosen Opfern und den schrecklichsten Kriegen begleitet, daher sollte sich Europa zurückhalten, wenn dieser Weg im Nahen Osten nicht nach westlichen Vorstellungen beschritten wird.
Thomas Bauer präsentiert wirklich "Eine andere Geschichte des Islams" (Titel) und hält Europa einen Spiegel vor. Damit erfüllt er voll und ganz sein selbst gestecktes Ziel: "ein geschärftes Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Islam immer Vielfalt bedeutet und es somit »den Islam« nicht gibt, [... ]." (14)
Jonas Teichgreeber