Rezension über:

Ekaterina Boltunova / Willard Sunderland (Hgg.): Regiony Rossijskoj imperii. Identičnost', reprezentacija, (na)značenie, Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie 2021, 296 S., ISBN 978-5-4448-1702-5
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Rezension von:
Alexander Bauer
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Alexander Bauer / GĂĽl Sen
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Bauer: Rezension von: Ekaterina Boltunova / Willard Sunderland (Hgg.): Regiony Rossijskoj imperii. Identičnost', reprezentacija, (na)značenie, Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/37338.html


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Ekaterina Boltunova / Willard Sunderland (Hgg.): Regiony Rossijskoj imperii

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Historische Regionen eignen sich wie wohl kein anderes Medium für die Artikulation revisionistischer Ansprüche, lassen sie sich doch auf den alten Karten und in Toponymen identifizieren oder in den Erinnerungen älterer Generationen fassbar machen. Gerade an diesem Umstand zeigt sich die Natur der Regionen als mentales und politisches Konstrukt, das dazu noch ein dynamisches und veränderbares Gebilde ist.

Die Geschichte einzelner Regionen ist bereits zum Forschungsobjekt der Neuen Imperiengeschichte geworden. [1] Meistens werden die Regionen als Objekte der zentral gesteuerten imperialen Politik betrachtet, die komplexen Beziehungen zwischen der imperialen Herrschaft und den Eliten der betreffenden Territorien stehen dabei im Fokus. Gewiss ist diese Blickrichtung nicht falsch, das Verhältnis zwischen dem Zentrum des Imperiums und dessen Peripherien war der ausschlaggebende - doch nicht der einzige - Faktor in der Konstituierung und Integration des imperialen Raums. Der hier zu besprechende Sammelband zeigt dies eindrücklich. Schon der Titel des Bandes zeigt den Umstand an, dass die Regionen Ergebnisse komplexer und multifaktorieller, auf verschiedenen Ebenen gelagerter Prozesse sind, der Prozesse der Regionalisierung. Selbst wenn diese Prozesse jedoch vom imperialen Zentrum aus angestoßen und gesteuert wurden, so heißt es noch lange nicht, dass die Zentralmacht in diesen Prozessen das letzte Wort behielt.

Der Sammelband teilt sich, klammert man die Einführung aus, in fünf thematische Blöcke mit jeweils zwei (Teile 1, 2, 4, 5) bis vier (Teil 3) Beiträgen. In der Einleitung führt Sunderland in die Problematik der Begrifflichkeit der Region als Forschungsobjekt ein. Er versteht Region als eine relationale Größe, als ein Ergebnis politischer, mentaler, narrativer Leistungen verschiedener Akteure. In diesem Sinne kann eine Region als ein mentaler und Bewusstseinsraum oder auch als ein System auf mehreren Ebenen gelagerter Beziehungen (beispielsweise Interaktion zwischen ethnischen und religiösen Gruppen sowie deren Vorstellungen von der betreffenden Region) aufgefasst werden. Als Anliegen des Bandes wird ein Überblick der regionalen Geschichte des Zarenreiches genannt mit dem Ziel, Region als eine wichtige Kategorie der historischen Analyse ins Bewusstsein zu rücken; die Region als ein Konstrukt zu begreifen, welches aus der Perspektive einzelner Individuen sowie bestimmter Gruppen erschaffen wird. Dabei soll die Rolle der Regionen als Bestandteile und wichtige Identifikationsgrößen in den Narrativen dieser Gruppen von sich selbst aufgezeigt werden. Wann entstehen die Regionen? Welche Faktoren beeinflussen die Formierung von Regionen? Was sind die Mechanismen dieser Prozesse? Wie beeinflussen die Regionen einander und die gesamte Struktur des Imperiums? Wie beeinflussen Regionen die Herausbildung russischer und anderer nationaler Identitäten? Dies sind die konkreten Fragen, die im Sammelband angerissen werden, doch vielmehr in die weiteren Forschungsperspektiven hinausweisen. In diesem Sinne ist die Auswahl der thematischen Schwerpunkte im Sammelband einleuchtend: Begriffe und Kategorien von Regionen in den intellektuellen Diskursen; regionale Identität und soziale Hierarchien; Bilder, Repräsentation und Vorgaben der Macht; regionales Management von Gerichtsbarkeit; das Eigene und das Fremde. Im Sammelband wird die Vielfalt von möglichen Regionskonzepten und die der analytischen Ansätze eindrücklich aufgezeigt. Regionen können im Rahmen von Regionalgeschichte, von Imperiengeschichte aber auch mit translokalen und globalhistorischen Ansätzen analysiert werden.

Bei der Vielfalt der im Sammelband aufgegriffenen Themen wird die komplexe Beschaffenheit der Regionen sehr deutlich: Sie sind ein Prozess bzw. eine Interaktion zwischen dem Realen und dem Erschaffenen, zwischen Idee und Materie. Wohl die größte Herausforderung in diesem Prozess ist eine dauerhafte Stabilisierung einer Region, und zwar in der Form, die den Zielen der imperialen Macht entspricht und den Einwohnern als gegeben und natürlich erscheint. Dies kann durch eine diskursive Anreicherung der betroffenen Gebiete bewerkstelligt werden, wie dies bei den Beschreibungen des Orenburger Landes durch seine Gouverneure (Ljubičankovskij) oder im "Historischen Überblick Sibiriens" von Slovcov (Soderstrom) der Fall war; oder durch administrative Reformen versucht werden, um beispielsweise die Gerichtsbarkeit auf dem ausgedehnten Territorium Sibiriens zu etablieren (Krest'jannikov) oder eine neue administrativ-territoriale Gliederung und staatliche Verwaltung am südlichen Rand des Imperiums im Südkaukasus durchzusetzen (Urušadze).

Vom Historiker Slovcov dem Imperium am Beispiel der Erschließung Sibiriens zugeschriebene schöpferische Kraft scheiterte gerade dort: Die Justizreform von 1864 verlief jenseits des Uralgebirges in sibirischen Weiten ins Leere, während die Versuche einer administrativen Neujustierung des Südkaukasus an Beharrungskräfte der traditionellen Machtverhältnisse und den Widerstand der imperialen Lokalverwaltung scheiterten. Im Falle des Südkaukasus war es schließlich nicht das Zentrum, das der Region seine Vorstellung von der Organisation von Machtverhältnissen aufzwang, sondern die Region, die das Zentrum zu einem Umdenken und Revision der lokalen Reform zwang.

Die Beharrungskräfte der durch ethnische Vielfalt und historische Überlieferung von geographischen Vorstellungen der Ethnien geprägte imperiale Situation in den Regionen musste das Zentrum auch im Nordwestlichen Gebiet (Severo-Zapadnyj kraj) kennenlernen (Beitrag von Staljunas). Mentale Karten der Regionen waren einerseits traditionelle Auffassungen der Bevölkerungsgruppen von der Region, andererseits Instrumente des Einflusses. Natürlich saßen die imperiale, intellektuelle Elite und Bürokratie am längeren Hebel, wenn es darum ging, die überkommenen (hier vor allem die polnischen) mappings durch eine utilitaristisch-imperiale Neukartierung und Bezeichnung zu überschreiben. Die Intellektuellen der nichtdominanten ethnischen Gruppen waren sogar bereit, diese imperiale Raumkonzepte (hier unter dem Namen Nordwestliches Gebiet samt seinen Gouvernements) zu übernehmen. Aber hieß das, dass die polnische Elite ihre traditionellen mental maps vollends vergaß?

Regionen sind Produkte eines Zusammenspiels von miteinander übereinstimmenden aber auch miteinander konkurrierenden Narrativen. Spätestens hier wird der Begriff von Region historisch und politisch, besonders wenn es darum geht, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinausstrahlende Lesarten einer Region zu kappen, um eine in der Zukunft mögliche Herausbildung von regionsbezogenen Selbstidentifikation zu verhindern. Die Umdeutung des Großfürstentums Litauen im Uvarovs Auftrag zu einem russischen Staatsgebilde, der Westlichen Rus', ist hier ein signifikantes Beispiel. Schließlich konnte diese zentral gesteuerte, auf die Integration abzielende Strategie das Koordinatensystem der imperialen territorial-administrativen Gliederung in die mental maps der polnischen, lettischen und jüdischen Einwohnern hineinzuschreiben, sie stellte aber das imperiale Zentrum vor einem Dilemma: ein historisch verankertes Narrativ der Region zu schaffen, aber eine besondere Identität der Region zu verhindern. An dieser Ambivalenz scheiterte die Regionalpolitik des Imperiums am dessen westlichen Rand: In den Praktiken von mappings der Ethnien, vor allem Polen und Litauern, überlagerten sich die offizielle imperiale Raumstruktur und die nationalen Narrative. Das Imperium tappte hier wohl in eine Falle: imperiale Strukturen spielten schließlich eine Rolle bei der Formulierung und Beschreibung von territorialen und nationalen Ansprüchen.

Nicht alle im Sammelband behandelte Themen und Aspekte kamen hier zu Sprache. Die Beiträge von Darius Staliūnas und Sören Urbansky werden in ihrer wissenschaftlichen Qualität und Fragestellung der im Titel und in der Einleitung des Sammelbandes anvisierten Komplexität und Problematisierung dieses Forschungsobjekts am ehesten gerecht. So bietet Urbansky eine eingängig präsentierte, nach meiner Auffassung aussichtsreiche globalhistorische und transregionale Perspektive auf die Geschichte der Regionen, dazu noch mit einem postkolonialen Ansatz der Geschichte der Rassendiskriminierung; Urbansky zeigt also Potential für kritische Themen und Fragestellungen.


Anmerkung:

[1] Victor Taki: Russia on the Danube. Empire, Elites and the Politics of Reform in Modavia and Wallachia 1812-1834, Budapest 2021; Paolo Sartori /, Pavel Šablej: Ėksperimenty imperii. Adat, šariat i proizvodstvo znanij v kazachskoj stepi, Moskau 2019.

Alexander Bauer