Rory Miller: Inglorious Disarray. Europe, Israel and the Palastinians since 1967, London: Hurst Publishers 2011, X + 275 S., ISBN 978-1-84904-116-4, GBP 25,00
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Sharon Pardo / Joel Peters (eds.): Israel and the European Union. A Documentary History, Lanham, MD: Lexington Books 2012, XXXII + 548 S., ISBN 978-0-7391-4812-9, GBP 70,00
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Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (eds.): Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-making 1958-1992, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013
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Matthias Schönwald: Walter Hallstein. Ein Wegbereiter Europas, Stuttgart: W. Kohlhammer 2018
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In der Geschichte der europäischen Nahostpolitik markiert der Herbst 1973 eine deutliche Zäsur. Nach Ausbruch des Yom-Kippur-Kriegs, der Anfang Oktober mit einem ägyptisch-syrischen Überraschungsangriff auf Israel begonnen hatte, verhängten die arabischen OPEC-Staaten ein Ölembargo gegen den Westen. Amerikaner und Europäer sollten unter Druck gesetzt werden, damit sie ihre Haltung im Nahostkonflikt zugunsten der arabischen Seite ändern. Entsprechend selektiv fiel die Ölsperre aus: die USA und die Niederlande, die als besonders israel-freundlich galten, sahen sich einem kompletten Lieferstopp ausgesetzt, der Bundesrepublik und anderen EG-Staaten drohten monatliche Kürzungen, während als pro-arabisch eingestufte Länder - allen voran Frankreich - nicht mit Sanktionen konfrontiert waren. Was diese Situation, aus der die erste Ölkrise hervorging, für die damalige EG mit ihren neun Mitgliedstaaten bedeutete, beschrieb Irlands Außenminister Garret Fitzgerald später so: "Sofort war klar, dass Öl ein Thema war, bei dem die verängstigte Gemeinschaft unfähig sein würde, solidarisch zu bleiben. Die Stimmung war 'Jeder kämpft für sich', und schnell fanden wir uns in einem fürchterlichen Hickhack." (27)
Dieses "fürchterliche Hickhack" - das originale "inglorious disarray" klingt eleganter, meint aber dasselbe - steht als Titel über dem Buch, das Rory Miller zur Geschichte der europäischen Nahostpolitik, oder genauer: Europas Politik gegenüber dem israelisch-palästinensischen Konflikt zwischen 1967 und 2009 vorgelegt hat. Dem aus Irland stammenden Historiker, der Middle East and Mediterranean Studies am King's College London lehrt, ist damit eine verdienstvolle Darstellung gelungen. Es handelt sich um einen kompakten Überblick, der die großen Linien aufzeigt, zugleich aber auch detailgenau ist, verfasst mit erzählerischem Schwung, zitierfreudig und quellennah, wobei sich der Autor vor allem auf zeitgenössische Pressetexte, eher punktuell auch auf (britisches) Archivmaterial stützt.
Die Themenstellung des Buches bringt es mit sich, dass es Einsichten unter zwei verschiedenen Blickwinkeln liefert. Zum einen lässt es sich lesen als Geschichte des Nahostkonflikts aus der Perspektive eines prominenten - nicht des wichtigsten - externen Akteurs. Zum anderen bietet es eine Fallstudie zum wohl schwierigsten Politikbereich der europäischen Integration. Denn der Nahostkonflikt war eines der herausragenden Betätigungsfelder, auf denen sich Europas gemeinsame Außenpolitik entwickelt hat - ab 1970 als Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ), seit 1992 als Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP).
Dass die Europäer bei ihrem Engagement in Nahost stets von handfesten Eigeninteressen geleitet wurden, gehört dabei zu den Leitmotiven des Buches. Miller zitiert etwa Josep Borrell, den früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments, der dies 2005 bei einem Israel-Besuch auf den Punkt brachte: "Wir sind nicht einfach die netten Jungs, die sagen, bitte hört auf zu streiten. Wir wollen, dass dieser Konflikt endet, weil er sich auf das Leben in Europa auswirkt." (188f.) Seit jeher gilt die Instabilität der Nachbarregion auch als europäisches Sicherheitsproblem - was droht, sind Engpässe in der Energieversorgung, Flüchtlingsströme, Terrorismus.
Zugleich legen Titel und Einleitung des Buches nahe, dass die Geschichte der europäischen Nahostpolitik die Geschichte eines Scheiterns sei. Auf keinem anderen Feld, so Miller, "war die Kluft zwischen Rhetorik und Handeln der Europäer offensichtlicher". Insgesamt habe die Gemeinschaft in den letzten vier Jahrzehnten den eigenen Anspruch verfehlt, im Nahostkonflikt die Rolle eines "vollwertigen Akteurs" zu übernehmen. (2)
Der Autor bezieht dieses Urteil auf zwei Ebenen: die Abstimmung im Innern und die Einflussmöglichkeiten nach außen. Was die interne Verständigung der EG- bzw. EU-Staaten angeht, enthält das Diktum vom "fürchterlichen Hickhack" freilich nur die halbe Wahrheit, wie die Lektüre des Buches erweist. Natürlich zeigte sich die Zerstrittenheit der europäischen Außenpolitik auch im Umgang mit Nahost. Miller stellt dabei immer wieder die Sonderrolle Frankreichs heraus, das - in den 50er Jahren noch Israels wichtigster Verbündeter - seit dem Sechstagekrieg 1967 deutlich stärker der arabischen Seite zuneigte als der Großteil der anderen EG-Staaten. Meistens aber gelang es den europäischen Regierungen eben doch, sich dem israelisch-palästinensischen Konflikt gegenüber zumindest auf gemeinsame Prinzipien zu einigen.
Dafür stand bereits die Reaktion auf das Öl-Embargo von 1973. Zwar ließ man es nach innen an praktischer Solidarität fehlen, wie die am stärksten betroffenen Holländer zu spüren bekamen. Doch nach außen fanden die Europäer unter dem Druck der Rohstoffwaffe rasch zu einer einheitlichen Haltung. Am 6. November 1973 veröffentlichten die EG-Staaten ihre erste offizielle Nahost-Erklärung. Wie Miller betont, brachte sie auch inhaltlich einen Neuansatz. Sie rückte die Frage der Palästinenser ins Zentrum der politischen Debatte, indem sie deren "legitimen Rechte" betonte und Israel zum Rückzug aus allen 1967 besetzten Gebieten aufrief (34).
Damit war ein Grundtenor vorgegeben, der Europas Stellungnahmen zum Nahostkonflikt in den kommenden Jahrzehnten bestimmen sollte, sehr zum Unwillen Israels. Für Belastungen im europäisch-israelischen Verhältnis sorgte vor allem, dass sich die Staaten der EG seit Mitte der 70er Jahre zunehmend der PLO annäherten. Allerdings geschah dies in sehr unterschiedlicher Form und Geschwindigkeit. Während etwa Italien Arafats Organisation bereits 1979 formal anerkannte, beschränkte sich die Bundesrepublik bis zum Oslo-Friedensprozess der 90er Jahre auf inoffizielle Kontakte.
Neben solcher Heterogenität im Innern war es die mangelnde Durchsetzungskraft nach außen, unter der Europas nahostpolitische Rolle jahrzehntelang litt. Mit der Macht der USA, so ein weiteres Leitmotiv des Buches, konnten die europäischen Staaten im Nahen Osten schlicht nicht konkurrieren, allen Visionen zum Trotz, der vereinte Kontinent würde sich zum ebenbürtigen Akteur der Weltpolitik entwickeln. Die Schwäche Europas - während des Kalten Krieges wie danach - tritt bei Miller umso deutlicher zutage, als er sein Thema konsequent als Vierecks-Geschichte entfaltet. Neben Israelis und Arabern stehen zwei externe Akteure, von denen der eine - Amerika - bereits Mitte der 70er Jahre eine dominierende Position erlangt hatte. Ging es um ernsthafte Friedensbemühungen, so Miller, kamen nur die USA als Vermittler und Garantiemacht in Frage - für die Israelis, weil sie allein in Washington einen verlässlichen Bürgen der eigenen Sicherheit sahen, und für die Araber, weil Europa offenkundig die Mittel fehlten, um den nötigen Druck auf Israel auszuüben.
"Amerika ist der einzige Partner, der Karten in diesem Spiel hat", fasste Anwar as-Sadat die Konstellation zusammen (148). Während des Friedensprozesses von Camp David, den Ägyptens Präsident 1977 mit dem israelischen Premier Menachem Begin initiierte, blieb den Europäern denn auch bloß die Rolle von Beobachtern. Ohnehin standen sie dem israelisch-ägyptischen "Separatfrieden" von 1979 skeptisch gegenüber, versprach er doch in ihren Augen keine tragfähige Lösung der Palästinenser-Frage.
Eine Zäsur bedeutete der israelisch-palästinensische Friedensprozess ab 1993. Hatte sich Europas Nahostpolitik bis dahin weitgehend im Deklaratorischen erschöpft, so erlangte die Gemeinschaft nun auch eine praktische Funktion. Dabei musste sich die EU zunächst mit der Rolle des größten Geldgebers für die palästinensische Autonomiebehörde begnügen - "Payer, not Player", resümiert eine Kapitelüberschrift süffisant (137). Seit Mitte der 90er Jahre aber konnten die Europäer bei ihrem Bemühen, die eigene Finanzkraft in politischen Einfluss zu verwandeln, durchaus Punktgewinne verbuchen, so Millers Tenor. Er würdigt die europäische Beteiligung an den Verhandlungen zum Hebron-Abkommen von 1997, die Einbindung der EU in das 2002 gegründete Nahost-Quartett oder die 2005 aufgestellte Grenzkontroll-Mission EUBAM Rafah, deren praktische Bedeutung marginal blieb, mit der Israel aber immerhin eine europäische "third party role" im Sicherheitsbereich akzeptierte. Wenn man so will, lassen sich den letzten Kapiteln des Buches, gegen dessen Gesamttendenz, doch Ansätze einer bescheidenen Erfolgsbilanz entnehmen - unter der Voraussetzung, dass man, wie der Autor, von vornherein nur niedrige Erwartungen an Europas weltpolitische Gestaltungskraft hat.
Während Miller die europäische Rolle auf der nahöstlichen Bühne konturenreich nachzeichnet, bleiben die internen Bedingungen dieses Handelns eher unterbelichtet. Welchen spezifischen Interessen und Postulaten die einzelnen europäischen Staaten folgten, wird kaum erörtert. Nur vage zeigt sich so etwa der Einfluss des historischen Erbes, der bei früheren Kolonialmächten wie Frankreich und Großbritannien natürlich anders ausfiel als bei der Bundesrepublik, deren Israel-Politik stets im Schatten der NS-Vergangenheit stand. Auch institutionelle Entwicklungen werden bloß gestreift, etwa die einschneidende Reform durch den Maastrichter Vertrag von 1992, der die GASP etablierte. Mit Millers Fokus auf den Nahostkonflikt wiederum hat es zu tun, dass eine wichtige Dimension der europäisch-israelischen Beziehungen nur punktuell ins Blickfeld gelangt: die wachsende ökonomische Verflechtung zwischen beiden Seiten.
Wie sehr das europäisch-israelische Verhältnis seit Jahrzehnten gerade durch die Spannung zwischen wirtschaftlicher Annäherung und stets wiederkehrender Entfremdung im Zeichen des Nahostkonflikts geprägt wird, macht eine weitere Neuerscheinung sehr gut greifbar. Sharon Pardo (Ben-Gurion University) und Joel Peters (Virginia Tec) haben, als Begleitpublikation einer Studie von 2010 [1], eine umfassende Quellensammlung zu den politischen Beziehungen zwischen Israel und der EU vorgelegt. Das Buch enthält, in chronologischer Ordnung, rund 200 Dokumente aus der Zeit von 1957 bis 2011 - Verlautbarungen der europäischen und der israelischen Diplomatie, gemeinsame Abkommen, Politikerreden und Presseberichte. Die einzelnen Quellenstücke sind unkommentiert; allerdings geht jedem der fünf Abschnitte, in die sich der Band gliedert, eine inhaltliche Einleitung voraus.
Was Art und Perspektive der Quellen betrifft, ist die Edition recht uneinheitlich. In den letzten zwei Dritteln (ab den frühen 80er Jahren) dominieren offizielle Statements europäischer Herkunft. Die ersten Teile dagegen vermitteln stärker die Sichtweise Israels - auch anhand zahlreicher interner Papiere der israelischen Regierung, die das Staatsarchiv in Jerusalem freigegeben hat und die für den Quellenband aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt wurden. Diese Dokumente erlauben manch spannenden Blick hinter die Kulissen der amtlichen Politik.
Deutlich wird etwa, wie sehr es Israel als Bruch in seinem Verhältnis zu Europa empfand, als sich Anfang der 70er Jahre die EG-Staaten unter Führung Frankreichs dem Nahostkonflikt zuwandten. Zunächst zielte man noch darauf - in offenkundiger Überschätzung der eigenen Möglichkeiten -, den Europäern "das Recht abzusprechen, sich überhaupt beim ganzen Thema Nahost zu engagieren", wie es 1970 in einem Schreiben des israelischen Außenministeriums an die Botschaften des Landes in Westeuropa heißt (103). Dann setzte die israelische Diplomatie in den Hauptstädten der EG auf argumentative "Zermürbungsversuche" (so ebenfalls das Außenministerium), um die Staaten der Gemeinschaft von einer als einseitig pro-arabisch empfundenen Politik abzuhalten (103). Umso verbitterter reagierte Israel auf die Nahost-Erklärung der Neun vom Oktober 1973, zumal deren Motive in Jerusalems Wahrnehmung allzu durchsichtig erschienen. "Öl für Europa statt Frieden für Nahost", laute die wahre Botschaft, so Israels Außenminister Abba Eban, der damit den Ton setzte für künftige Erwiderungen seines Landes auf europäische Initiativen (XXIX).
Doch zu diesem Zeitpunkt hatten sich Israel und die EG schon seit mehr als einem Jahrzehnt auf wirtschaftlichem Feld aufeinander zubewegt. Es ist eine der überraschenden Einsichten, die der Dokumentenband vermittelt, wie sehr der junge Staat Israel in den 50er und 60er Jahren, nur kurze Zeit nach dem Holocaust, seine Hoffnungen auf den Austausch mit einem vereinten Europa setzte. Dahinter stand der Anspruch, selbst Teil des europäischen Kulturraums zu sein, zugleich aber auch die schiere ökonomische Notwendigkeit - für ein Land, das in der eigenen Region isoliert war, rohstoffarm und damals noch ohne amerikanischen Bündnispartner. Dass die EG bzw. die EU der größte Handelspartner Israels ist, gehört tatsächlich zu den Konstanten in der Geschichte der europäisch-israelischen Beziehungen. Politisch befördert wurde die ökonomische Verflechtung durch eine Reihe von Wirtschaftsabkommen, beginnend mit einem ersten Handelsabkommen 1964, dem 1970 ein Präferenz- und 1975 ein Freihandelsabkommen folgten. In dem Maße, wie sich Israel ab den 90er Jahren zu einer weltweit führenden Hightech-Nation entwickelte - darauf verweist Rory Miller -, wuchs übrigens das Interesse der Europäer, die Kontakte im Bereich Forschung und Technologie auszubauen.
Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Israel und der EG entfalteten sich jenseits der wechselseitigen Auseinandersetzungen zum Nahostkonflikt, mitunter gegenläufig dazu - etwa während der Zweiten Intifada ab 2000 -, insgesamt aber nicht unabhängig davon. Letzteres wird bei Pardo und Peters an zwei Stationen jüngeren Datums deutlich. So führte der israelisch-palästinensische Durchbruch von Oslo 1993 auch zu einem "qualitativen Wandel" im israelisch-europäischen Verhältnis, wie er sich im EU-Israel-Assoziierungsabkommen von 1995 manifestierte (187). Umgekehrt wiederum knüpfte die EU ein weiteres substantielles "Upgrade" der diplomatischen, institutionellen und wirtschaftlichen Beziehungen, über das 2007/2008 diskutiert wurde, an Fortschritte im Friedensprozess (322ff.). Als die ausblieben, legte Brüssel die Vertiefungspläne auf Eis - mit diesem Stand der Dinge endet der Quellenband. Bis auf weiteres bleiben Israel und Europa also befangen in einer Beziehungsgeschichte zwischen Kooperation und Konflikt.
Anmerkung:
[1] Sharon Pardo / Joel Peters: Uneasy Neighbors. Israel and the European Union, Lanham, Md., u.a. 2010.
Hubert Leber