Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen: Wallstein 2011, 2 Bde., 1652 S., ISBN 978-3-8353-0929-6, EUR 79,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Christoph Dieckmann / Babette Quinkert / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2003
Christoph Dieckmann / Babette Quinkert / Tatjana Tönsmeyer (Hgg.): Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen: Wallstein 2003
Christoph Dieckmanns monumentale Studie ist hervorgegangen aus einer bereits 2003 an der Universität Freiburg eingereichten und von Ulrich Herbert betreuten Dissertation. Anderthalb Jahrzehnte Forschung hat Dieckmann der deutschen Besatzungsherrschaft im so genannten "Generalkommissariat" (GK) Litauen gewidmet, einem Gebiet von 67199 km2 mit einer Bevölkerungszahl von drei Millionen (1941, 280-284), das am Ende "zum Grab für über 400.000 Menschen geworden war" (1541). Warum es zu so vielen Opfern kam, ist die Leitfrage dieser Studie.
Dabei geht Dieckmann nicht von einer vereinfachenden Täter-Zuschauer-Opfer-Trichotomie aus, sondern untersucht systematisch den "ebenso dynamischen wie komplexen Prozess der Interaktion zwischen Besatzern und Besetzten, Deutschen, Litauern und Juden" (10). Dass er aus sprachlichen Gründen hierbei die wichtige Gruppe der Polen im GK Litauen nur am Rande einbeziehen kann, ist eines der wenigen Defizite dieser so umfangreichen und akribischen Arbeit.
Die vor allem aus litauischen und deutschen, aber auch lettischen, russischen, britischen, US-amerikanischen und israelischen Archiven, Museen und Bibliotheken stammenden Quellen, zu denen auch zahlreiche Akten aus Nachkriegsprozessen sowie Tagebücher und Erinnerungen gehören, werden ergänzt durch die bis zum Jahr 2008 erschienene Literatur. So gelingt es Dieckmann, auf breiter Grundlage die bisherigen, meist national verengten Forschungsstränge zusammenzuführen, zu diskutieren und zu erweitern, um zu einem möglichst unvoreingenommenen Bild der deutschen Besatzungspolitik in Litauen zu gelangen, wobei er den Fokus durchgängig auf die verbrecherischen Aspekte dieser Politik richtet.
Der quellenbasierten Analyse vorangestellt ist die Geschichte des Verhältnisses von Litauern, Juden und Deutschen vom Ersten Weltkrieg bis zur deutschen Besetzung Litauens im Juni 1941. Als folgenschwerste Strömungen dieser krisengeschüttelten Zeit benennt Dieckmann den wachsenden litauischen Nationalismus und Antisemitismus, die zunehmende wirtschaftliche Bedrängnis der jüdischen Bevölkerung sowie die andauernde deutsche Geringschätzung für Litauen und seine Bewohner. Die brutale sowjetische Unterwerfung Litauens 1940/41 verstärkte diese Tendenzen noch.
Doch ohne die spezifische deutsche Besatzungspolitik, so Dieckmann, hätten die vorherigen Entwicklungen im unabhängigen Litauen und unter dem sowjetischen Regime nicht zum Massenmord der folgenden Jahre geführt. In fünf Kapiteln analysiert Dieckmann vor allem die elementaren Bereiche deutscher und litauischer Politik: Verwaltung, Wirtschaft, Siedlung, Massenverbrechen sowie den Widerstand und dessen Bekämpfung. Weitere Bereiche wie Kultur, Bildung und Medien werden dagegen nur gestreift (732-740). Diese Leerstellen in der Betrachtung der deutschen Besatzungspolitik sind bedingt durch den Fokus auf die Verbrechen. Da Dieckmann zur Erklärung dieser Verbrechen ideologische Motive, besonders Antisemitismus und Antibolschewismus, jedoch durchaus für wichtig hält, wäre ein vertiefter Blick auf das Verhältnis von mörderischer Politik und politischer Kultur, Bildung und Propaganda sinnvoll gewesen.
Zu den großen Vorzügen und Neuerungen von Dieckmanns Analyse gehört es, detailliert und möglichst unvoreingenommen die Zusammenarbeit deutscher und litauischer Institutionen und Personen zu untersuchen. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass Initiative, Kontrolle und Steuerung von deutscher Seite erfolgten, dass die Massenverbrechen aber ohne die "enorme Kooperationsbereitschaft hinreichend großer Teile der litauischen Gesellschaft" (927) nicht zu realisieren gewesen wären. Dieckmann verzichtet zur Kennzeichnung dieser Zusammenarbeit von Anfang an auf den mit dem Odium des nationalen Verrats belasteten Begriff "Kollaboration". Er betont vielmehr, dass die Interessen der Täter Schnittmengen aufwiesen, deutsche wie litauische Beteiligte aber glaubten, jeweils in ihrem eigenen, national verstandenen Interesse zu handeln.
Die deutsche Besatzungspolitik im GK Litauen kostete das Leben nahezu sämtlicher 200.000 litauischer Juden, mindestens 170.000 sowjetischer Kriegsgefangener und etwa 40.000 zwangsevakuierter sowjetischer Zivilisten, um nur die zahlreichsten Opfergruppen zu nennen. Die Gründe für diese Gewalttaten führt Dieckmann nicht nur auf die schon erwähnten ideologischen Motive zurück, sondern auch auf die praktische Politik, namentlich in den Bereichen Sicherheit, Ernährung und Arbeit. Für den lange Zeit apologetisch postulierten Gegensatz zwischen fanatischen SS-Weltanschauungskriegern mit ihren Helfer einerseits und einer pragmatisch orientierten Zivil- und Militärverwaltung andererseits findet Dieckmann keine Belege. Vielmehr hätten bei den Massenverbrechen die verschiedensten beteiligten deutschen und litauischen Institutionen und Personen Hand in Hand gearbeitet - mit dem gemeinsamen Hauptziel, den Krieg zu gewinnen.
In seiner ebenso detaillierten wie umfassenden Studie hat Dieckmann die Grenzen der nationalen Geschichtsschreibung hinter sich gelassen und das Bild der unter deutschem Regime während des Zweiten Weltkriegs in Litauen begangenen massenhaften Verbrechen von den bislang vorherrschenden Verzerrungen befreit.
Lars Jockheck