Tilman Plath: Zwischen Schonung und Menschenjagden. Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generaltbezirken des Reichskommissariats Ostland 1941-1944, Essen: Klartext 2012, 502 S., ISBN 978-3-8375-0796-6, EUR 34,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Nur Sobers-Khan: Slaves Without Shackles. Forced Labour and Manumission in the Galata Court Registers, 1560-1572, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2014
Mirjam Sprau: Kolyma nach dem GULAG. Entstalinisierung im Magadaner Gebiet 1953-1960, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Marcel M. van der Linden / Magaly Rodríguez García (eds.): On Coerced Labor. Work and Compulsion after Chattel Slavery, Leiden / Boston: Brill 2016
Jürgen Hensel / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, Osnabrück: fibre Verlag 2013
John Donoghue / Evelyn P. Jennings (eds.): Building the Atlantic Empires. Unfree Labor and Imperial States in the Political Economy of Capitalism, ca. 1500-1914, Leiden / Boston: Brill 2016
Petra Rentrop: Tatorte der "Endlösung". Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez, Berlin: Metropol 2011
Florian Dierl / Zoran Janjetović / Karsten Linne (Hgg.): Pflicht, Zwang und Gewalt. Arbeitsverwaltungen und Arbeitskräftepolitik im deutsch besetzten Polen und Serbien 1939-1944, Essen: Klartext 2013
Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Göttingen: Wallstein 2011
Tilman Plaths umfassende Analyse der nationalsozialistischen "Arbeitseinsatzpolitik" im Baltikum ist aus einer Flensburger Dissertation im Rahmen eines Förderprogramms der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" hervorgegangen mit dem Ziel, Forschungslücken zur Zwangsarbeit während der NS-Herrschaft zu schließen. Das heterogene "Reichskommissariat Ostland" entstand nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 als zivile Verwaltungseinheit und umfasste neben den drei baltischen Ländern Litauen, Lettland und Estland auch das westliche Weißrussland, das sogenannte "Weißruthenien". Letzteres Gebiet schließt Plath jedoch aus seiner Untersuchung aus, da die dortige deutsche Besatzungspolitik noch ungleich brutaler war und zudem als relativ gut erforscht gelten darf.
Die baltischen Länder waren kaum ein Jahr zuvor infolge des Ribbentrop-Molotov-Paktes unter sowjetische Herrschaft gelangt, hatten vor dem Ersten Weltkrieg jedoch zum Zarenreich gehört, wo Litauen und Lettgallen Teile des sogenannten "Ansiedlungsrayons" (čerta osedlosti) gewesen waren, in dem sich die jüdische Bevölkerung des Russischen Reiches niederlassen durfte. Entsprechend vielfältig war die ethnische Struktur, die neben den baltischen Titularnationen vor allem große russische, weißrussische, polnische und jüdische Minderheiten umfasste. Insgesamt lebten in den "Baltischen Generalbezirken" des Reichskommissariats 1941 gut 5 Millionen Menschen.
Die deutsche Herrschaft konnte daher grundsätzlich auf die alte imperiale Strategie "divide et impera" zurückgreifen, indem sie mit Kooperationsangeboten und Repressionsmaßnahmen die einzelnen Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielte und so die historisch bedingten ethnischen Spannungen noch vertiefte. Neben einer Vielzahl einheimischer Akteure war aber auch das deutsche Besatzungsregime keinesfalls eine Einheit, sondern bestand aus Zivilverwaltung, Polizeiapparat, Militär sowie Vertretern verschiedener Institutionen aus dem Reich mit je eigenen Interessen.
Mit der "Arbeitseinsatzpolitik", also dem Versuch, die Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung für die deutsche Kriegswirtschaft auszubeuten, hat Plath ein zentrales, dennoch bislang wenig untersuchtes Betätigungsfeld des Besatzungsregimes herausgegriffen, in dem Vielfalt und Gegensätze der Interessen deutlich zutage traten. Wesentlich waren hier neben den Bedürfnissen der Kriegsökonomie vor allem die rassenideologisch bedingte "Neuordnung" und Germanisierung des Baltikums, die bis zur "Vernichtung durch Arbeit" führte. Plath interessiert sich dabei besonders für die Konflikte um den Ort der Arbeit, nämlich in der Heimat oder im Reich, für Repression und Kooperation im Verhältnis zu den einheimischen Kräften, für das politische Gewicht der rassenideologischen Prinzipien und schließlich für die Durchsetzungsfähigkeit der einzelnen Akteure.
Dazu gliedert Plath seine Untersuchung der "Arbeitseinsatzpolitik" in zwei Hauptteile: zum einen mit Blick auf deutsche und einheimische Akteure, namentlich Zivilverwaltung, Polizei, Wehrmacht, Wirtschaftsorganisationen sowie die "Landeseigenen Verwaltungen", zum anderen mit Blick auf die Betroffenen: Balten, Slawen, Juden und Roma sowie Deutsche und weitere "Arier", das heißt baltische Umsiedler und Flüchtlinge aus Nordrussland sowie westeuropäische Siedler. Die Lektüre der Analyse dieses komplizierten Beziehungsgeflechtes erleichtern neben den Zusammenfassungen der größeren Kapitelabschnitte auch immer wieder eingestreute kleine Zwischenfazite, wobei Letztere sich allerdings nicht über das Inhaltsverzeichnis erschließen lassen.
Das Bild, das Plath von der deutschen "Arbeitseinsatzpolitik" im Baltikum zeichnet, ist generell geprägt vom inhumanen, rassenideologisch geprägten NS-Menschenbild, das zu einer Kategorisierung und Hierarchisierung der einzelnen Bevölkerungsgruppen vor allem nach Kriterien der Herkunft führte. Auch hinsichtlich der Konkurrenz und widerstreitenden Interessen der einzelnen Akteure gibt es viele Parallelen zur "Arbeitseinsatzpolitik" in den anderen besetzten Gebieten Osteuropas. Für die Akteure im Baltikum stellt Plath fest, dass Polizei, Wehrmacht und deutsche Wirtschaftsorganisationen mit zunehmender Kriegsdauer und ungünstigem Kriegsverlauf immer stärker zu repressiven Maßnahmen wie Deportationen, Zwangslagern und Razzien neigten, um wenigstens Teile der einheimischen Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen und zur Arbeit zu zwingen. Dagegen habe die politische Abteilung der Zivilverwaltung, vor allem auf unterer Ebene, stärker auf die Kooperation mit einheimischen Kräften gesetzt. Dabei hätten diese allerdings nur dann mit den Besatzern kooperiert, wenn sich deutsche und einheimische Interessen deckten, ansonsten jedoch recht erfolgreich hinhaltenden Widerstand geleistet, zumal als sich die deutschen Kriegsperspektiven verschlechterten.
Was die Betroffenen der deutschen Politik angeht, gelangt Plath ebenfalls zu einem differenzierten Bild: Generell seien die slawischen Minderheiten schlechter behandelt und weit öfter zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert worden, während der "Reichseinsatz" der baltischen Mehrheitsbevölkerung zumindest anfangs eher einen freiwilligen Charakter gehabt habe. Besonders schlecht sei es jenen Slawen ergangen, die als Deportierte oder Kriegsgefangene ins Baltikum gelangten und dort in Lagern Zwangsarbeit verrichten mussten. Aber auch unter den Balten habe es Unterschiede gegeben: Rassistische Vorurteile hätten dazu geführt, dass die Litauer und Lettgallen im Osten Lettlands stärkeren Repressionen ausgesetzt gewesen seien als die übrige baltische Bevölkerung. Insgesamt, so Plath, lasse sich die Zahl der von Verschleppung, Internierung und Zwangsarbeit betroffenen einheimischen Slawen nicht beziffern. Es sei lediglich festzustellen, dass sie weit mehr unter Zwangsmaßnahmen hätten leiden müssen als die Balten. Letztlich hätten deutlich mehr als die bisher angenommenen 130.000 Arbeitskräfte aus dem Baltikum im Reich gearbeitet, wobei sich nicht beziffern lasse, wie viele von den Flüchtlingen des Jahres 1944 noch in Arbeit gebracht worden seien.
Im Unterschied zu Slawen und Balten habe die Behandlung der Juden im Baltikum von Anfang an unter dem "Primat der Vernichtung" (454) gestanden. Von 280.000 Juden überlebten nur 10.000 die deutsche Okkupation. Allerdings seien zu Beginn und gegen Ende des Besatzungsregimes die höchsten Opferzahlen zu beklagen gewesen, zwischenzeitlich habe die "Vernichtung durch Arbeit" in den Gettos und KZ dominiert. Weniger einheitlich habe sich der Umgang mit den Roma gestaltet, bei denen angesichts unklarer oder fehlender Vorgaben die Behandlung von Massenmord (etwa die Hälfte der 3.800 lettischen Roma, ein Drittel der 1.500 litauischen Roma, aber sämtliche 741 estnischen Roma) über Zwangsarbeit bis zur Gleichbehandlung mit den übrigen Einheimischen reichte.
An der Spitze der rassistischen Hierarchie im Baltikum standen schließlich die Besatzer selbst, außerdem zugewanderte oder zurückgekehrte Deutsche, zugewanderte und einheimische Skandinavier sowie Freiwillige aus Westeuropa, vor allem aus Belgien und den Niederlanden. Aus ihnen sollten sich die Führungs- und Aufsichtskräfte für ein künftiges "germanisches" Baltikum rekrutieren, und sie seien daher grundsätzlich mit entsprechenden Privilegien ausgestattet und bevorzugt behandelt worden.
Zusammenfassend beurteilt Plath die deutsche "Arbeitseinsatzpolitik" im Baltikum als wenig effizient, da Repression und Kontrolle zunehmend die Oberhand gewonnen und ernst gemeinte Kooperationsversuche zunichte gemacht hätten. Die baltischen "Landeseigenen Verwaltungen" hätten die Spielräume, die ihnen die rassistisch motivierte deutsche Politik eröffnete, vor allem dahingehend genutzt, die größten Lasten auf die nicht repräsentierten slawischen Minderheiten abzuwälzen. So hätten sie eine weitgehende "Schonung" der baltischen Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitigen deutschen "Menschenjagden" auf die slawischen Minderheiten und der Vernichtung von Juden und Roma erreicht (462).
Mit dem Rückgriff auf Archivalien aus allen behandelten Staaten sowie dem Einbezug der gesamten einschlägigen Literatur gelangt Plaths Studie auf solidem Fundament zu überzeugenden Ergebnissen. Auffällig ist allerdings, dass die Untersuchung lediglich eine Perspektive von oben einnimmt, indem sie sich auf das Verwaltungshandeln und seine Folgen konzentriert, so wie es sich in deutschen und einheimischen Akten niedergeschlagen hat (27ff.). Eine Perspektive von unten, die auch Selbstzeugnisse der Betroffenen der "Arbeitseinsatzpolitik" einbezieht, fehlt, wäre aber eine notwendige Ergänzung der vorliegenden Arbeit gewesen.
Lars Jockheck