Rezension über:

Martin Doerry / Hauke Janssen (Hgg.): Die SPIEGEL-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München: DVA 2013, 464 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04604-8, EUR 22,99
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Rezension von:
Rolf Steininger
Innsbruck
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Rolf Steininger: Rezension von: Martin Doerry / Hauke Janssen (Hgg.): Die SPIEGEL-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München: DVA 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/12/23706.html


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Martin Doerry / Hauke Janssen (Hgg.): Die SPIEGEL-Affäre

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Der SPIEGEL rief - und fast alle kamen nach Hamburg ins neue SPIEGEL-Haus: Historiker, Politiker, Journalisten, Zeitzeugen, 500 Gäste und viele Mitarbeiter der SPIEGEL-Gruppe. Geladen waren sie für den 22. und 23. September 2012 zu einer Jubiläumsfeier in eigener Sache: der "Spiegel-Affäre" vor 50 Jahren. Der vorliegende Band enthält die 14 Beiträge dieser Veranstaltung, ergänzt um Zeitzeugengespräche (u. a. mit Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke und Helmut Schmidt) und 90 Seiten Dokumente.

Was war 1962 geschehen? Am Montag, dem 8. Oktober 1962, hatte das Hamburger Magazin eine Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit" veröffentlicht. Gemeint war das wenig schmeichelhafte Urteil der NATO-Führung über die Bundeswehr am Ende des Herbstmanövers "Fallex", das von einem Atomkrieg ausgegangen war. Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß befürwortete damals die nukleare Ausrüstung der Bundeswehr. Mit "Fallex" wurde diese Strategie massiv in Frage gestellt. "Die Botschaft", so Eckart Conze von der Universität Marburg in seinem lesenswerten Beitrag über die Atompolitik von Strauß, "war eindeutig" (83): Dieses Konzept - und damit Strauß - war gescheitert (Unbeeindruckt davon forderte Bundeskanzler Adenauer bei seinem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy Mitte November in Washington mit großem Nachdruck "kleine nukleare Waffen" für die Bundeswehr).

In dem Artikel stand grundsätzlich nichts Neues. Und so meint denn auch der langjährige Chefredakteur des SPIEGEL, Georg Mascolo, völlig zu Recht, dass ein solcher Text "heute kaum jemanden mehr erregen" würde (19). Die Staatsmacht sah das damals bekanntlich anders und schlug in der Nacht vom 26. auf 27. Oktober 1962 zu: SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein wurde verhaftet, auf "dienstlichen Befehl" von Strauß an einen deutschen Diplomaten in Madrid auch der Artikelschreiber Conrad Ahlers, der sich in Spanien aufhielt, Redaktions- und Verlagsräume des Magazins wurden durchsucht und versiegelt, Unterlagen und sogar Schreibmaschinen beschlagnahmt. Im Bundestag sprach Adenauer von einem "Abgrund von Landesverrat".

Die Republik war damals aufgewühlt, viele sahen schon das Ende von Pressefreiheit, des Rechtsstaats, gar der Demokratie. Es gab zahlreiche Demonstrationen gegen diesen "Akt staatlicher Willkür". Interessant, wie diese Stimmung auf der Tagung bei den Zeitzeugen, die "dabei gewesen waren", wieder auflebte. Im Eingangsreferat sprach Hans-Ulrich Wehler, Jahrgang 1930, von einem "Wendepunkt in der politischen Kultur der Bundesrepublik" (24). Er war damals in Stanford und wäre wegen der Affäre beinahe in Amerika geblieben. Die Älteren unter den Teilnehmern (u.a. Hans-Dietrich Genscher, Horst Ehmke und Helmut Schmidt) stimmten ihm vorbehaltlos zu - bis der "nachgeborene" Norbert Frei von der Universität Jena, Jahrgang 1955, "mit feiner Nadel die Luft aus diesem 'Ballon' ließ" und solche Berichte als "generationsstiftende Pathosformel" bezeichnete, wie es Hauke Janssen vom SPIEGEL in seiner Zusammenfassung der Konferenzergebnisse treffend formuliert (343).

In seinem bemerkenswerten Beitrag zeigt Frei, dass die Aktion keinesfalls die erste Attacke auf die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik war: Es gab sie im Rundfunk (Regierungssender 1953), im Fernsehen ("Adenauer-Fernsehen" 1961), bei diversen Presseorganen (Beschlagnahme des "Stern" 1959). Demnach war der Einschnitt im Oktober 1962 "weniger scharf, als es den damaligen Protagonisten und den sich heute an diesen heißen Herbst Erinnernden erscheint". Er war "weder völlig neu noch gänzlich unerwartet", brachte allerdings "ob des autoritären Gebarens gegenüber der Presse ein schon gut gefülltes Fass des Unmuts zum Überlaufen", so dass die Exekutive "schlagartig an den Pranger" geriet (42). Bis 1962 war der SPIEGEL auch keinesfalls das "Sturmgeschütz der Demokratie" (wie einst von seinem Herausgeber Rudolf Augstein und vom Blatt selbst bezeichnet). Lutz Hachmeister, Jahrgang 1955, weist auf die einflussreichen SS-Seilschaften im Magazin in den 1950er Jahren hin (51 ff.).

Und immer wieder ging es auf dieser Tagung um Franz Josef Strauß. Man suchte den "wahren Strauß", über den es, wie Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschichte, Jahrgang 1967, in seinem lesenswerten Beitrag anmerkt, "immer noch keine Biographie gibt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt" (249). Auf dem Höhepunkt der Krise schrieb Heinrich Krone, enger Vertrauter Adenauers, am 9. November 1962 in sein Tagebuch, Strauß sei "eine Gefahr für den Staat. Unbeherrscht, unberechenbar". [1] War er das wirklich? Rudolf Augstein hat das jedenfalls so gesehen: Sein Kampf gegen ihn wurde fast zu seiner Lebensaufgabe, zu einem Kreuzzug. Schlemmer spricht in diesem Zusammenhang von "unliebsamen Kollateralschäden", von "Kampfjournalismus", der "nicht nur mit Gewinnen, sondern auch mit Kosten für die westdeutsche Demokratie verbunden war" (276).

Hat die Justiz damals versagt? Interessant die Antwort des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Hoffmann-Riem. Bis vor kurzem habe er diese Frage bejaht, mache heute aber "ein gehöriges Fragezeichen" dahinter. Es sei zwar manches juristisch "höchst angreifbar", sämtliche Strafverfahren seien aber später eingestellt worden. Die Frage, ob die damaligen Bewertungen den damals üblichen Ansprüchen an die Begründung eines Verdachts entsprochen hätten, beantwortet er mit "Ja" (135).

Axel Schildt nennt die Affäre "eine Brücke von den frühen zu den späteren 1960er Jahren"; die Protestaktionen seien zwar nicht der "Ausgangspunkt einer neuen politischen Kultur", hätten der Entwicklung aber einen "enormen Aufwind" gegeben (179). Der SPIEGEL formulierte das in seiner Jubiläumsnummer vom September 2012 so: "Als die Deutschen lernten, ihre Demokratie zu lieben." Für Franziska Augstein, Tochter des SPIEGEL-Herausgebers, begann mit der SPIEGEL-Affäre 1962 gar das Jahr 1968. Dagegen erhebt Thomas Schlemmer Einspruch: "Wenn man diese und andere Aussagen liest, so fragt man sich, warum Willy Brandt 1969 noch 'mehr Demokratie' wagen wollte, wenn dies doch der SPIEGEL schon Jahre zuvor für ihn erledigt hatte" (268). Schlemmer weist der Affäre in der Geschichte der Republik aber dennoch einen "herausgehobenen Platz" zu, auch wie sie von Zeitzeugen und Institutionen erinnert werde, wozu der SPIEGEL durch geschickte Inszenierung in eigener Sache "nicht wenig beigetragen habe" (267).

Am Ende profitierte der SPIEGEL am meisten von der Affäre. Die Verkaufszahlen gingen in die Höhe, das Wochenmagazin galt von nun an als Inbegriff einer freien Presse. "Was hätte dem Blatt Besseres passieren können?" fragt Norbert Frei, um fortzufahren: "Rudolf Augstein hat das rasch begriffen. Und mit Jubiläumsfeiern, die von Dekade zu Dekade größer auszufallen scheinen, geben seine Nachfolger zu erkennen, dass man dies im SPIEGEL bis heute weiß" (49). Bleibt als Fazit: eine Veranstaltung, die, wie Hauke Janssen meint, "keine generelle Umdeutung, aber in vielen Punkten eine Neuakzentuierung brachte" (360). Dem kann man zustimmen.


Anmerkung:

[1] Heinrich Krone: Tagebücher. Zweiter Band: 1961-1966. Bearbeitet von Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 2003, 115.

Rolf Steininger