Annika Mombauer: Die Julikrise. Europas Wege in den Ersten Weltkrieg (= C.H. Beck Wissen; 2825), München: C.H.Beck 2014, 128 S., 2 Karten, ISBN 978-3-406-66108-2, EUR 8,95
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Im Jahr des hundertsten Jubiläums herrscht wahrlich kein Mangel an Beiträgen über die Ursprünge des Großen Krieges von 1914 bis 1918. Neben den monumentalen Studien von Christopher Clark, Herfried Münkler [1] und anderen wirkt das knappe Bändchen von Annika Mombauer zweifellos durch seine wohltuende Kürze attraktiv. Mit ihrem Versuch, die wohl komplexeste internationale Krise der neueren Geschichte auf weniger als 120 Seiten zu erklären, geht die Autorin jedoch ein Wagnis ein. Das Risiko ist umso größer als Mombauer den Anspruch erhebt, nicht nur den deutschen, sondern "Europas Weg in den Ersten Weltkrieg" nachzuzeichnen. Mit dem multilateralen Blick bewegt sie sich fraglos auf der Höhe der jüngeren Forschung. [2] Jedoch wird Mombauers Buch diesem Anspruch nicht gerecht. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der knapp bemessenen Anlage des Reihenkonzeptes von C.H.Beck Wissen, sondern auch in einem überdimensionierten Anspruch, der von der Autorin selbst zu verantworten ist und der durch die einseitige Ausrichtung und Akzentsetzung letztlich nur ungenügend gedeckt wird.
So will es die fachlich unter anderem durch eine Biografie des jüngeren Moltke ausgewiesene Schülerin John Röhls nicht bei einer Analyse der Julikrise belassen, was schon schwierig genug wäre. Es geht ihr vielmehr ausdrücklich auch darum, die ihrer Meinung nach zuletzt angeblich betriebene "Relativierung" der deutschen und österreichischen Verantwortung zurecht und die Schuldfrage wieder in den Vordergrund zu rücken (14f., 119). Dabei sitzt sie allerdings wie so mancher in der aktuellen Debatte um Clarks Buch 'The Sleepwalkers' einem Irrtum auf, geht es doch weder Clark noch anderen ähnlich argumentierenden Arbeiten darum, die katastrophale Berliner Vorkriegspolitik und die deutsche Verantwortung zu trivialisieren oder als weniger erheblich abzutun, sondern darum, der Multidimensionalität und Interaktivität der Vorkriegsepoche gerecht zu werden.
In ihrem Wunsch, nochmals das permanente Versagen, die sinisteren Motive und das verantwortungslose, ans Verbrecherische grenzende Handeln "einflussreicher Kreise in Wien und Berlin" nachzuweisen, hält sich Mombauer anders als die neuere Forschung nur allzu kursorisch mit der Vorkriegsgeschichte auf (16-26). Nur zwei Seiten hat sie übrig für den Übergang von der Bismarckschen Ära zur unmittelbaren Vorkriegsgeschichte. Eher beiläufig erfährt man, dass Serbien "starke pan-slawische Verbindungen zu Russland hatte" (16). Dabei scheint es gerade mit Blick auf die später noch behandelte Julikrise nicht unerheblich, dass Serbien bis 1903 noch eher zu Österreich-Ungarn neigte und erst nach den grausamen Morden an seiner eigenen Königsfamilie in den russischen Orbit gelangte.
Für das Verständnis des internationalen Systems und das Rückwirken peripherer Problemlagen auf das europäische Zentrum etc. ist das Vorkriegskapitel leider ebenso überflüssig wie für die Prädispositionen der Entscheidungsträger in der Julikrise. Unbeachtet bleibt u.a., dass das Kaiserreich bei der bekannten Stafette der Vorkriegskrisen mit Ausnahme der Bosnischen Annexionskrise in der Regel auf der Verliererseite zu finden war. Ebenfalls unter den Tisch fällt, dass Frankreich wiederholt gegen das internationale Gebot der "offenen Tür" verstieß und dass es nicht zuletzt England war, welches aus imperialen Entlastungserwägungen heraus, die neuralgische Zone Südosteuropas wieder zum Streitthema machte, indem es Russlands Expansionswünsche ab 1907 vom Mittleren auf den Nahen Osten umlenkte und damit in Frontstellung zur Donaumonarchie brachte. Nicht nur derartige systemische Entwicklungen kommen in der Analyse zu kurz. Auch über mentale Dispositionen (wie die nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch anderswo virulente Weltreichslehre) oder über die machtpolitischen Potenziale der einzelnen Großmächte erfährt der Leser nichts. Stattdessen konzentriert sich Mombauer wiederholt darauf, diejenigen Stimmen deutscher Militärs hervorzuheben, die wegen der sich zuspitzenden Sicherheitslage einen Präventivkrieg für geboten hielten. Für Mombauer erscheint der Krieg daher "im Rückblick [...] so gut wie unvermeidlich" (23). Dass es auch andere Stimmen gab, allen voran Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der seit 1911 auf eine internationale Entspannung setzte, dass Deutschland etwa ab Februar seine Flugzeugrüstungen komplett auf Eis gelegt hatte und auch nicht daran dachte Munitionsvorräte für den vermeintlich so sicher erwarteten und sogar beabsichtigten Krieg anzulegen, bleibt unerwähnt.
Deutlicher auf der Höhe der aktuellen Erkenntnisse bewegt sich das Kapitel über das Attentat von Sarajewo und die Mitwisserschaft der serbischen Regierung (27-34). Bei den Reaktionen darauf (34-60) jedoch konzentriert sich die Autorin leider ausschließlich auf Wien und Berlin (47). Dass beispielsweise die britische Presse einstimmig der Ansicht war, dass der Terrorakt in Belgrad "ausgeheckt" worden sei [3], erfährt der Leser ebenso wenig wie die Tatsache, dass Serbien als mittlere Macht im Verständnis der Zeit und zum Schutze der Großmachstabilität gegenüber einem traditionellen Mitglied der Pentarchie wie der Habsburgermonarchie nicht einmal als satisfaktionsfähig galt. Vergeblich sucht man auch nach einer Analyse der Reaktionen in den übrigen Staaten.
Für die Autorin steht fest, dass das Attentat eine willkommene Gelegenheit für die Mittelmächte war, einen europäischen Krieg vom Zaun zu brechen, als "letzte Möglichkeit Österreich-Ungarn als vollwertige Großmacht zu rehabilitieren", wie es der deutsche Außenstaatssekretär Gottfried von Jagow gegenüber Botschafter Lichnowsky in London beschrieben hatte. Dass Jagow in diesem Brief aber insbesondere die Strategie eines "lokalisierten" Konfliktes als Absicht darstellte, unterschlägt die Autorin (57). Überhaupt bleibt die komplexe und fatale Strategie der Lokalisierungsproblematik weitestgehend unreflektiert. Ähnlich einseitig werden auch die Vermittlungsversuche behandelt. So sieht Mombauer, die zuletzt eine verdienstvolle Quellenedition herausgegeben hat, durchaus zurecht, dass etwa London die "russische Freundschaft zu fast jeden Preis" erhalten zu müssen glaubte (84) und dass man in England nicht Belgien, sondern die zukünftig zu erwartende militärische Macht Russlands den Ausschlag für die Entscheidung zur militärischen Intervention auf dem Kontinent gegeben habe (111). Dennoch hält die Autorin an der überkommenen Meinung fest, dass insbesondere der britische Außenminister Sir Edward Grey "ernsthaft" vermitteln wollte. Dass aber Grey seine Position als "ehrlicher Makler" mit den kurz zuvor bekannt gewordenen Verhandlungen über eine anglo-russische Marinekonvention eingebüßt hatte, wird von ihr ebenso wenig kritisch nachvollzogen wie der völlig missratene, weil Russland außen vor lassende Versuch einer Konferenz à quatre gemeinsam mit Frankreich, Italien und Deutschland. [4]
Immer wieder gewinnt der Leser den Eindruck, dass nur die Mittelmächte über alternative Möglichkeiten verfügt hätten, während den Entente-Mächten letztlich keine Wahl geblieben sei, als zu den Waffen zu greifen. Ein solches einseitiges Aktions-Reaktionsmuster ist indes bereits vielfach widerlegt worden. In London gab es durchaus alternative Überlegungen etwa zur Fernblockade ohne Expeditionsstreitmacht oder einer bloßen Garantie der französischen Atlantikküste. Im Falle Wiens fragt sich Mombauer, warum man nicht mehr Energie darauf verwandt habe, die serbischen Hintergründe des Attentats zu belegen (54). Tatsächlich lehnte der russische Außenminister Sasonow jede Erörterung darüber von vornherein ab, wie er auch ein Verteidigungsrecht Österreich-Ungarns gegen den serbischen Irredentismus immer bestritten hatte. Viel zu selbstverständlich geht Mombauer bei der Frage der Mobilmachungen (95-117) davon aus, die russische Entscheidung sei alternativlos gewesen (98). Schließlich hatte niemand Petersburg dazu gezwungen, seinen Einflussbereich Richtung Österreich-Ungarn zu verschieben, zumal sich die Mobilmachung nach dem Reglement vom März 1913, anders als hier suggeriert (97), auch auf die an Deutschland grenzenden Bezirke bezog.
So sehr man den Aussagen über den fatalen Charakter der Blankovollmacht Berlins oder über das kurzsichtige Ultimatum Wiens zustimmen kann, so sehr übersieht der im Gegensatz zum Titel stehende durchgängige Fokus auf die Mittelmächte die Gemengelagen bei den Ententemächten. Gerade hier zeigen sich die Einseitigkeit der Argumentation und die analytische Sackgasse, in die man gerät, wenn man die gesamte Beweisführung auf die Kriegsschuldfrage ausrichtet. Wie einseitig Mombauer argumentiert, belegen auch die lückenhaften Literaturhinweise. Darin findet sich beispielsweise nicht ein einziges Werk zur englischen Rolle oder zum internationalen Staatensystem. Auch die Standardtrilogie zur deutschen Außenpolitik von Konrad Canis oder die wegweisende Studie von Friedrich Kießling sucht man vergebens. Stattdessen wird der Leser explizit auf ältere Werke verwiesen bzw. auf die umstrittenen Arbeiten von Hobbyhistorikern wie Lüder Meyer Arndt oder Max Hastings. Insgesamt ist Mombauers Darstellung zu eindimensional, um zu überzeugen. Als Korrektiv zu der von Clark verfochtenen Sichtweise eines Krieges, der komplizierte Ursachen und nicht nur einen Verantwortlichen hat, taugt sie nicht.
Anmerkungen:
[1] Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012; Herfried Münkler: Der Grosse Krieg. Die Welt 1914-1918, 2. Aufl., Berlin 2013.
[2] Vgl. Annika Mombauer: Julikrise und Kriegsschuld. Thesen und Stand der Forschung, in: Erster Weltkrieg, APuZ 64 (2014), Nr. 16-17, 14.4.2014, 10-16, 16.
[3] Donald C. Watt: British Reactions to the Assassination at Sarajevo, in: European History Quarterly 1 (1971), Nr. 3, 233-247, 239.
[4] Thomas G. Otte: July Crisis. The world's descent into war, summer 1914, Cambridge 2014, 521.
Andreas Rose