Okko Behrends: Zur römischen Verfassung. Ausgewählte Schriften. Hgg. von Martin Avenarius und Cosima Möller, Göttingen: Wallstein 2014, 608 S., ISBN 978-3-8353-1416-0, EUR 89,00
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Als Schüler und Nachfolger von Franz Wieacker auf dem Göttinger Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte hat sich Okko Behrends (geboren 1939) wissenschaftlich intensiv mit Themenfeldern befasst, die auch von Althistorikern beackert werden. Wenn letztere davon nicht hinreichend Notiz genommen haben - auch der Rezensent muss sich hier im Fall der römischen Gesetzgebung schuldig im Sinne der Anklage bekennen -, so mag das daran liegen, dass insgesamt die Kommunikation zwischen Juristischer Romanistik und Althistorie eher noch nachgelassen hat. Auch haben die "großen Drei" der älteren Generation - neben Wieacker noch Max Kaser und Wolfgang Kunkel - durch ihre gewichtigen Handbücher wohl stärker in die Breite gewirkt. Okko Behrends hat, nach monografischen Studien u.a. zur römischen Geschworenenverfassung (1970) und zum Zwölftafelprozess (1974), neben weiteren Spezialmonografien in erster Linie (z.T. umfangreiche) Aufsätze und Akademieabhandlungen vorgelegt und an der neuen deutschen Übersetzung des "Corpus Iuris Civilis" mitgewirkt.
Auf eine Sammlung von im engeren Sinn rechtsgeschichtlichen Studien ("Institut und Prinzip"; 2 Bände, Göttingen 2004) folgt nun eine weitere zum Verfassungsrecht der Römer - oder, wenn dieser Begriff odiös erscheint, zur staatlichen Ordnung aus rechtlicher Perspektive. Die Beiträge im Rahmen einer knappen Anzeige hier einzeln aufzuzählen erübrigt sich. [1]
In den Schriften und der Praxis der römischen Juristen sieht Behrends generell weit mehr als situativen Pragmatismus und tralatizische Handhabung des Gegebenen am Werk. Nicht Evolution, sondern klar abgrenzbare Phasen und in diesen erkennbare Kämpfe bestimmten demnach die Entwicklung. Das Recht sei in Rom zunächst Emanation elementarer religiöser Ordnungsvorstellungen gewesen, greifbar zumal in der auguralen und pontifikalen Ordnung des Raumes, der Zeit und des Friedens mit den Göttern. Nach der Öffnung des Pontifikalkollegiums im 3. Jahrhundert sei das von der gebildeten Aristokratie getragene Recht durch griechische, zumal stoische Vorstellungen inspiriert, das ius civile durch naturrechtliche Ideen fundiert und weiterentwickelt worden. Urrömisch erscheinende Prinzipien wie bona fides, aber auch das philosophisch basierte Postulat eines Schutzes von Schwächeren im Sinne eines "sozialen Naturrechts" konnten, wie leicht zu erkennen ist, Dynamik entfesseln, wenn sie auf das Comitium getragen wurden und politische Positionen zu formieren halfen. Folgerichtig eröffnet die gut achtzig Seiten umfassende Abhandlung "Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit. Die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v.Chr." (1980) die Sammlung, ergänzt um die ausführliche Rezension der Studie eines italienischen Historikers, der nicht bereit war, "sich in die Folgen hineinzudenken, die ein dynamisch gewordenes materiales Naturrechtsdenken auch für politisches Handeln und die es rechtfertigende Verfassungsauslegung haben kann" (115). An diese von Behrends postulierte Dynamisierung schloss sich seit Beginn des 1. Jahrhunderts v.Chr. als dritte Phase eine "liberal" genannte Rechtstheorie an, in der dem philosophisch geschulten Redner die Aufgabe eines Erziehers zugewiesen wurde, der die Bürger im Sinne der zivilisatorischen Kraft des Gemeinschaft stiftenden Rechts zu festigen hatte. Juristische Kommunikationsmittel in dieser bürgerlich befriedeten Sphäre waren demnach das nunmehr immer elaboriertere und zugleich konsistentere prätorische Edikt, seine Kommentierungen sowie wechselseitige, rechtlich verbindliche Übereinkünfte (pacta conventa), wie sie nicht zuletzt in der vom populus beschlossenen lex rogata zum Ausdruck kamen (das unter Romanisten verbreitete Ausspielen von juristischer Arbeit am Recht gegen politische Gesetzgebung [2] macht Behrends nicht mit). Man mag das überzeugend finden oder nicht - Ciceros politische Philosophie der 50er-Jahre, aber auch sein Idealbild des rechtskundigen orator gewinnen hier auf einmal einen plastischen Kontext, auch wenn der Verdacht eines Zirkelschlusses nicht fernliegt. Parallel sei aber aus dem Scheitern der "Reformjuristen" um P. Mucius Scaevola (cos. 133) "die Jurisprudenz der fundatores, zu denen er zählte", in Misskredit geraten und musste diese "einer formalen, alle freien Wertungen und Interpretationen aus dem Rechtssystem verbannenden Jurisprudenz Platz machen" (99). Aber es sei eben dieser "spätrepublikanische Positivismus, der selbst eine reflektierte, griechische Rechtstheorie voraussetzt" gewesen, der "einen falschen Schein strenger Autarkie des römischen Rechtsdenkens" erweckt habe (20 Anm. 9). Augustus habe dann an das Ordnungsversprechen der auguralen Religion angeknüpft und das durch seinen neuen Namen und die Herausstellung seiner auctoritas zum Ausdruck gebracht. Die christlichen Kaiser wiederum konnten die Tradition fortsetzen, da das Christentum einer "Erneuerung der durch die römische Geschichte gegebenen, die Fortdauer der Welt gewährleistenden, geistgegründeten Rechtsordnung" (396ff., über Justinian) nicht widerriet. Mit Mommsen (und Savigny) teilt Behrends den Glauben an zentrale religiöse, sozial-ethische oder juristische Begriffe, die den lebendigen Geist einer Ordnung repräsentieren; anders als Mommsen misst er aber verschiedenen Entwicklungsstufen der Ordnung und theoretischen Konzepten der Akteure eine größere Bedeutung zu. Behrends pflegt zugleich einen humanistischen, an der Aufklärung orientierten Optimismus und stößt in diesem Sinn ins "Zentrum eines geistigen Traditionszusammenhangs, der dazu geführt hat, daß das römische Kaisertum trotz aller Machtfülle auch in der christlichen Zeit von Konstantin bis Justinian einen Rechtsbegriff bewahrt hat, in dem nicht der Gedanke eines das Recht stiftenden Gesetzesbefehls dominiert, sondern die vernünftige Ordnung, die dem Gesetz im eigentlichen Sinn eine diese Ordnung ergänzende und an den notwendigen Stellen erneuernde Rolle zuweist" (395).
Gewiss haben wichtige Prämissen und Ergebnisse von Behrends' Forschungen deutlichen Widerspruch erfahren. Man kann den "Philhellenismus" und die Philosophiehaltigkeit der römischen Jurisprudenz füglich bezweifeln, wenn die Belege von Ennius und Cicero stammen. Aber Behrends stellt sich dem Problem (117ff.). Und wenn er für das Verständnis des augusteischen Prinzipats die praxeologische Perspektive verwirft (314, in Auseinandersetzung mit Fergus Millar, dem immerhin bescheinigt wird, mit seinem "radikal pragmatischen Ansatz [...] viel Licht [...] auf der tatsächlichen Handlungsebene verbreiten" zu können), so besticht doch sein Mut, die "rechtlich hochkomplexe Prinzipatsverfassung" gerade von einem scheinbaren Grenzparadox, nämlich dem bekannten "princeps legibus solutus" her verständlich zu machen. [3] Hier steht Behrends evident in der deutschen Tradition der Prinzipatsforschung.
Sein Bestreben, die Rechtsentwicklung an philosophische Ideen und Debatten zurückzubinden und die Juristen als Akteure in den politisch-historischen Prozessen der späten Republik und des frühen Prinzipats zu kontextualisieren, korrespondiert jedoch mit der schwindenden Bedeutung des einst so stolzen und autonomen römischen Rechts sowohl in der materialen Rechtsentwicklung unserer Zeit als auch in der akademischen Juristenausbildung. Dieser doppelte Marginalisierungsprozess lenkt in einer vielleicht heilsamen optischen Umkehrung den Blick auf historisch-individuelle Zusammenhänge. Dazu passt Behrends' wiederholter Hinweis, dass Privatrecht und Verfassungsrecht in Rom zusammengesehen werden müssen, weil beide mittels philosophisch-konzeptioneller Ideen fortentwickelt worden seien und das Privatrecht gerade im Gefüge starker staatlicher Machtstrukturen eine hohe Eigenständigkeit erlangt habe (ermöglicht freilich nur durch die Identität und Homogenität der beide tragenden Elite). Deshalb kommt auch den wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlungen und Partien in diesem Band konstitutive Bedeutung zu; wer die Abhandlung "Mommsens Glaube - zur Genealogie von Recht und Staat in der Historischen Rechtsschule und zu den geistigen Grundlagen der verschiedenen eigenrömischen Systementwürfe" (311-380) studiert hat, wird das "Römische Staatsrecht" beim nächsten Mal anders, wacher lesen können.
Die hier versammelten, grundgelehrten und zugleich weit ausgreifenden Studien sind keine einfache Lektüre, und ihre im Kern idealistische Hermeneutik wird nicht jeden überzeugen. Es wäre auch naiv, den Hinweis auf unterschiedliche disziplinäre Denkstile mit Einheitsparolen abzutun. Aber auch wer die Prämissen des philosophisch sensiblen Juristen [4] nicht teilt, wird in dessen Studien außergewöhnlich reiche Belehrung und vielfache Anregung für die eigene althistorische Arbeit an der staatlichen Ordnung oder politischen Kultur der Römer finden. Der Band verdient eine intensive Auseinandersetzung. Er könnte der letzte seiner Art sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. http://d-nb.info/104497978x/04 (8.9.2014); hilfreich sind das die Beiträge knapp umreißende Vorwort der Herausgeber (7-15), das etwas irreführend als "Bibliographie" bezeichnete, thematisch geordnete Schriftenverzeichnis des Verfassers (559-577) und die Register (579-607) für Stichworte und Stellen; es gibt keinen Namenindex.
[2] Zu diesem Problem s. zuletzt zugespitzt Jani Kirov: Römische Gesetzgebung in der späten Republik - (wieder) ein Thema für Romanisten?, in: Gesetzgebung und politische Kultur in der römischen Republik (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 20), hg. v. Uwe Walter, Heidelberg 2014, 31-46.
[3] 493-512; vgl. 498: "Der Prinzeps ist von den Gesetzen nicht befreit, weil er das Recht nicht achtet, sondern umgekehrt, weil er die von ihm beanspruchte und in der Restitution der Republik betätigte Aufgabe, die Rechtsordnung kraft außerordentlicher Vollmacht zu erhalten und zu sichern, nur kraft einer Stellung über den Gesetzen erfüllen kann." Das und die "tiefe Verwurzelung der Herrschaftsidee des Prinzipats in der naturrechtlichen, auf die Staatsgewalt angewandte Mandatstheorie" (502) rechtfertigt (oder camoufliert) letztlich eine (jede?) permanente Ausnahmegewalt. Allein dieser Aufsatz (reizvoll zu vergleichen mit Wolfgang Kunkels "Über das Wesen des augusteischen Prinzipats" von 1961, leicht greifbar in Walter Schmitthenners Wege der Forschung-Band "Augustus") bietet reichlich Stoff für ein interdisziplinäres Oberseminar (Althistorie - Jurisprudenz - Philosophie).
[4] An etwas versteckter Stelle (22 Anm. 14a) erklärt Behrends das von Ennius dem S. Aelius Paetus Catus zuschriebene Dictum "philosophari se velle, sed paucis" quasi zum Selbst- und Idealbild: "Die Haltung des Aelius Paetus ist in gewisser Weise die des (!) modernen Juristen, der seit Savigny der zeitgenössischen Philosophie immer wieder nützlich erscheinende Philosopheme entlehnt, aber gewöhnlich nicht mitphilosophiert hat."
Uwe Walter