Ellen Franke: Von Schelmen, Schlägern, Schimpf und Schande. Kriminalität in einer frühneuzeitlichen Kleinstadt - Strasburg in der Uckermark (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien; Bd. 10), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 270 S., 9 Farb-, 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20952-0, EUR 39,90
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Dina van Faassen: "Das Geleit ist kündbar". Quellen und Aufsätze zum jüdischen Leben im Hochstift Paderborn von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1802, Essen: Klartext 1999
Im Fokus dieser 2008 am Institut für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität entstandenen Magisterarbeit stehen Kriminalfälle in Strasburg, einer kleinen Stadt in der Uckermark. Das Ereignis des Jahres 1612, mit dem Ellen Franke ihr Buch eröffnet, ist eine gewalttätige Auseinandersetzung zweier Stadtbediensteter auf offener Straße mit Todesfolge. Soweit sich der Vorfall aus den Quellen rekonstruieren ließ, verweist er auf typische Ingredienzien kleinstädtischer Konflikte dieser Zeit: Konkurrenz und wechselseitige Missgunst unter Bekannten, Ehrabschneiderei und in diesem Fall zu allem Unglück auch Hantiererei mit einer geladenen Waffe im Zustand der Trunkenheit. Dass der Vater des Getöteten dem Täter aber nicht nur den Galgen ersparte, sondern ihm per Urfehde sogar "auß Gnade und Gunst" die Entlassung in die Freiheit ermöglichte, inspirierte Franke zu der berechtigten Frage nach dem Verhältnis zwischen formellen und informellen Konfliktregulierungspraktiken sowie - im Hinblick auf die Akteure - nach den Beziehungen zwischen Tätern und Geschädigten unter der Voraussetzung sozialer Nähe. Die Leitfrage ist an vorderster Stelle auf den Punkt gebracht (14-15): "Agierte der Rat als formelle Sanktionsinstanz gemäß den normativen zeitgenössischen Vorgaben ex officio und punitiv?"
Zur Beantwortung dieser auf die Rechtspraxis zielenden Frage hat Franke 213 strafrechtlich relevante "Sachverhalte" auf der Grundlage unterschiedlicher, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam aufbewahrter "Criminalia", Schossregister und Zivilgerichtsakten ausgewertet. Der Untersuchungszeitraum reicht von 1540 bis 1630 und umfasst damit den, wie es heißt, quellenmäßig am dichtesten dokumentierten Zeitraum der frühneuzeitlichen Kriminalgeschichte Strasburgs, das letzte Viertel des 16. Jahrhunderts. Auf die kurze Einleitung (Kap. 1) folgt ein methodisch orientierter Abschnitt über "kriminalitätshistorische Rahmenbedingungen" (Kap. 2). Daraufhin wird die Stadt Strasburg auf rund 50 Seiten porträtiert, wobei ein Unterabschnitt verfassungs- und sozialgeschichtliche Tatsachen (Kap. 3.1) aufführt, ein anderer (Kap. 3.2) die städtische Strafgerichtsbarkeit und ihre Träger entwickelt. Die nachfolgenden Hauptkapitel teilen die Straffälle in zwei Prozessabschnitte: Kap. 3 behandelt Straffälle von der Ausführung bis zu ihrer Anzeige, Kap. 4 Verfahren bis zur Einstellung respektive zur Urteilsverhängung, Kap. 5 bildet das Fazit.
Die luzide Struktur der Arbeit und die Kapitelbezeichnungen machen ersichtlich, dass das leitende Interesse ein kriminalitätsgeschichtliches ist. Der lokale Mikrokosmos Strasburg tritt dem gegenüber ein Stück weit zurück. Damit ist aber keine Schwäche, sondern vielmehr eine ausgesprochene Stärke der Studie angesprochen, die nämlich eine dezidierte, auf eine strukturelle Dimension abzielende Fragestellung verfolgt und eben nicht um die Singularität ihres Betrachtungsgegenstands kreist. Gleichwohl seien mit Blick auf das dritte Kapitel kurz einige Koordinaten zum Ort der Untersuchung - Strasburg - bestimmt.
Strasburg wurde mit dem Frieden von Prenzlau 1479 brandenburgisch und sollte es über die verschiedenen Gebietskörperschaften hinweg bis 1990 bleiben. Heute liegt die Stadt im Südosten Mecklenburg-Vorpommerns, nur wenige hundert Meter von der Landesgrenze nach Brandenburg entfernt. Während Strasburg gegenwärtig 5.000 Einwohner zählt, betrug die Bevölkerung im 16. und 17. Jahrhundert etwa 1.500-2.000 Personen (33-34 mit Anm. 8) - eine von ungezählten Kleinststädten im Alten Reich also. Von einem Ort dieser Größe ist anzunehmen, dass man einander kannte, zumal die nächsten größeren Städte damals wie heute in einiger Entfernung liegen: Pasewalk 16, Prenzlau 23 Kilometer Luftlinie. Einst wie heute, da die Uckermark durch Wald- und landwirtschaftliche Flächen zu annähernd 90% bedeckt ist, war Strasburg ein stark agrarisch geprägter Ort mit einer ausnehmend großen Feldmark (39, Anm. 42; 45-51). Franke sieht hier eine "kombinierte Burg-, Mark- und Gewerbesiedlung", die ökonomisch eine bescheidene "Nahmarktfunktion" erfüllte (Kap. 3.1.2), wobei die Erzeugnisse aus Ackerbau und Viehzucht maßgeblich blieben. Für 1728 konnte Lieselott Enders im "Historischen Ortslexikon für Brandenburg" unter 336 sesshaften Haushaltsvorständen denn auch 91 (27%) nachweisen, die sich als "Ackerbürger" bezeichneten (50).
Immerhin verfügte Strasburg über die formalen Attribute kommunaler Selbstverwaltung im territorialen Rahmen. Eine Polizeyordnung von 1515 hatte den kurbrandenburgischen Städten ein 16-köpfiges Stadtregiment vorgegeben. Die Strasburger brachten es nur auf 12 Personen - jeweils drei Bürgermeister und 9 Ratsherren, deren Mandate zu wechseln hatten. Sogenannte "Viertelherren" und "Viergewerke" wurden von den vier angesehensten Zünften (Tuchmacher, Bäcker, Schneider, Kürschner) als Beiräte abgestellt. Um 1515 muss die Stadt auch die niedere und hohe Gerichtsbarkeit ausgeübt haben. Der landesherrliche Anteil an der Strafgerichtsbarkeit ließ sich über die fiskalische Dimension hinaus in der Praxis nicht bemessen (76). Dass die Ratsherren praktisch identisch mit den Schöffen waren (76), lässt auf eine Statusdifferenzierung schließen, die sich in exklusiver Ratsfähigkeit (dazu 60-64), aber nicht ohne Weiteres in zünftischen Strukturen abbildete: "Handwerk" bedeutete neben den Lebensmittelzünften praktisch Textilgewerbe. Das Gros der städtischen 'Ratsherren' aber ist ebenfalls dem landwirtschaftlichen Sektor zuzurechnen (55).
Die binnen 90 Jahren belegbaren 275 Einzeldelikte entfielen laut Kap. 4.3, sofern klassifizierbar, auf Übergriffe auf Personen (45%), Eigentumsdelikte (24%), sittliche Übertretungen (16%) und Herabsetzungen der Obrigkeit (14%). Die allermeisten von Franke ermittelten "Vergehen und Verbrechen" zielten auf die Subsistenzsicherung der Täter und Täterinnen ab. Typisch waren somit Diebstahl oder sogar Raub von Lebensmitteln, begangen meist von stadtbekannten Armen bzw. Verarmten. Ungeachtet der Schwere manchen Delikts belegt die Verfasserin, dass in der signifikanten Mehrzahl der Sanktionierungsfälle informelle Lösungen gesucht wurden. Viele Konflikte wurden "in der jeweiligen kleinen sozialen Einheit" von den Bürgern auf informellem Wege beigelegt. Dem Stadtgericht wurde der Prozessverzicht folglich durch Urfehde angezeigt. Dies zeige, dass "konkurrierende gesellschaftliche Mechanismen der Sozialkontrolle in Strasburg im 16. und frühen 17. Jahrhundert noch nicht zurückgedrängt waren" (93). Wie im eingangs genannten Totschlagsfall angedeutet, sieht die Verfasserin hier eine "Mentalität erstaunlicher Toleranz gegenüber Abweichlern" vorwalten (96, 209). Auch der Rat selbst bevorzugte gestaffelte, insbesondere initiale Ehrenstrafen, bevor er zu peinlichen Befragung und Strafverhängung schritt (87). Franke stellt sogar einen unbedingten Sanktionswillen des Rats - wenn auch nicht dessen Beharren auf Rechtshoheit als solche - grundsätzlich in Frage (207). Wurde dennoch das "peinliche Verfahren" durch den Rat durchgeführt, dann bei Wiederholungs- oder als besonders gemeinheitsschädlich erachteten Taten, außerdem in den 35 konstatierten Fällen von "Unzucht", wobei auch hier - zumindest gegenüber Einheimischen - eine "restitutive Wahrnehmung der rathäuslichen Sanktionskompetenz" zu beobachten sei, durch die schwere Strafen abgewendet wurden (156).
Betrachtet man dieses hier nicht weiter im Detail zu entwickelnde Gesamtbild, dann ergeben sich manche Fragen. Eine davon ist die nach dem Fortbestand informeller bzw. subsidiärer Sanktionspraktiken im weiteren Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts in Strasburg selbst. Vielleicht wäre es ratsam gewesen, im Titel der Arbeit nicht die gesamte Frühe Neuzeit zu versprechen, sondern den behandelten Zeitraum genau auszuweisen. So muss man auf mindestens zwei hoch interessante Kapitel der Geschichte Strasburgs in der Zeit nach 1630 verzichten: Den Niederschlag des Dreißigjährigen Krieges spätestens mit dem schwedischen Einzug desselben Jahrs, danach die Niederlassung zahlreicher Réfugiés in der Stadt ab 1691, die gemäß den Bestimmungen des Potsdamer Edikts unter einer gesonderten Gerichtsbarkeit standen. Eine Analyse der städtischen Justiz im 18. Jahrhundert schließlich wäre unter das Vorzeichen der allenthalben verankerten rathäuslichen Reglements des preußischen Staates zu stellen. Eine weiter führende Frage drängt sich mit jeder Fallstudie auf: die nach der Übertragbarkeit der Befunde, zumal auf größere und komplexere soziale Einheiten. Eine solche Gesamtbewertung stand in diesem Rahmen freilich nicht an. Mit dieser exzeptionellen und in jeder Hinsicht professionellen Magisterarbeit, die voll auf der Höhe der von ihr behandelten Themen steht - der historischen Kriminalitäts- und der Kleinstadtforschung, überdies der brandenburgischen Landesgeschichte - bietet dieses Buch vielmehr die besten Argumente für weitere Forschungen vergleichbaren methodischen Zuschnitts.
Stephan Laux