Detlef Pollack: Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute, Bielefeld: transcript 2020, 232 S., ISBN 978-3-8376-5238-3, EUR 20,00
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Detlef Pollack hat dieses Buch nicht aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums der Wiedervereinigung geschrieben. Seine Entstehung geht vielmehr auf eine Auseinandersetzung des in der DDR sozialisierten Soziologen mit Fürsprechern der ostdeutschen Bürgerbewegung über die Rolle der Oppositionellen in der friedlichen Revolution zurück, die im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" 2019 ausgetragen wurde. Er vertritt die These, dass es sich bei den Ostdeutschen von 1989/90 bis heute "um einen starken politischen Akteur handelt" - sowohl während der Revolution und Wiedervereinigung als auch danach, als sie sich "auch noch im Modus des Klagens" selbst behaupteten (8). Indem er argumentiert, "dass die politische und soziale Macht der ostdeutschen Bevölkerung weithin unterschätzt wird" (9), stellt er sich gegen die weitverbreitete Auffassung, der zufolge die Ostdeutschen lediglich Objekt von westdeutschem Paternalismus, wenn nicht gar westdeutschen "Kolonisatoren" waren.
Pollacks thesenstarkes Buch befasst sich im ersten Teil mit der friedlichen Revolution. Hier fragt er anhand von fünf Fallstudien - Plauen, Arnstadt, Dresden, Berlin, Leipzig -, wie sich unterschiedliche Formen kollektiven Protests herausbildeten. In all diesen Städten entstand Protest ohne sichtbare Führung; der entscheidende Faktor für das Anschwellen der Demonstrationszüge war die ungarische Grenzöffnung, die zu einem nie gekannten Flüchtlingsstrom führte. Die Flucht- und Ausreisebewegung, so Pollack, war das übergreifende Ereignis, das für die massenhaften Proteste und die Konstituierung der Bürgerrechtsgruppen konstitutiv war, da sie einen "einheitlichen Interpretationsrahmen" mit der Botschaft schuf: "Die da oben sind am Ende." (67) Demgegenüber war das Handeln der Oppositionsgruppen für die Massendemonstrationen nicht notwendig. Pollack betont vielmehr die Spannungen zwischen den Oppositionellen, die zeitweise an die Spitze der Proteste geschoben wurden, und den Protestierenden: Denn Erstere wollten den Dialog mit der Staatsmacht, Letztere hingegen die Konfrontation. Die SED-Führung, die ohne sowjetische Unterstützung blieb, erwies sich als handlungsunfähig und lief somit der Entwicklung hinterher. Als sie auch noch die Mauer öffnete, gab sie "das letzte Pfund ihrer Herrschaft aus der Hand" (77). Ergebnis war eine "Umkehrung der Machtverhältnisse", die noch einmal zeigte, dass die Stabilität der SED-Herrschaft vor allem "auf Repression und Abgrenzung" beruht hatte (78).
Auch in der sich anschließenden Phase hin zur Wiedervereinigung trieb das Volk, Pollack zufolge, die Entwicklung voran. Mit der Maueröffnung war die friedliche Revolution irreversibel geworden, und die Ostdeutschen, die unmittelbar danach zu Millionen die Bundesrepublik besuchten, sahen in der Wiedervereinigung die praktikabelste und schnellste Lösung ihrer Probleme - was darauf verweist, dass sie sich "ein hohes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit dem anderen Teil Deutschlands bewahrt" hatten (94). Die Oppositionellen, die sich weiterhin nicht als Repräsentanten des Volks, sondern als dessen Erzieher verstanden, entfernten sich immer mehr von den Massen, da sie deren ökonomische Bedürfnisse und deren Verlangen nach nationaler Einheit nicht ernst nahmen, sondern andere Ziele - sei es einen "Dritten Weg" zwischen Ost und West, sei es eine zivilgesellschaftliche Organisationsform - anstrebten. Demgegenüber avancierte Bundeskanzler Kohl zum Hoffnungsträger vieler Ostdeutscher, der, genau wie sie, insbesondere nach seinem Auftritt in Dresden am 19. Dezember 1989, konsequent für die Einheit eintrat. Es kam daher, so Pollack, zu einem "Zweckbündnis zwischen ostdeutscher Bevölkerung und Kohl aufgrund des Versagens der Bürgerrechtsbewegung in der Frage der deutschen Einheit" (116). Denn die Oppositionsgruppen, die Macht grundsätzlich als korrupt ansahen, verlegten sich aufs Verhandeln mit denen, die noch an der Macht waren, an den runden Tischen, insbesondere am Zentralen Runden Tisch in Berlin. Hier übersieht Pollack, dass es in diesen Verhandlungen auch um den geregelten Übergang zur Demokratie ging - ein Prozess, der die Revolution kanalisierte und die freien Wahlen vom März 1990 vorbereitete. Gleichwohl ist ihm zuzustimmen, wenn er auch in dieser Phase im Volk "den entscheidenden Agenten des Umbruchs in der DDR" erblickt (133f.), der noch vor der Vereinigung eine Wirtschafts- und Währungsunion erzwang. Zu Recht wehrt er sich daher dagegen, den Beitritt der fünf östlichen Bundesländer zur Bundesrepublik "als Akt der Unterwerfung und der Entmündigung des Ostens, als ein[en] Akt der Übernahme und Kolonisierung durch den Westen" zu sehen und will daher lieber von "einer freundlichen Übergabe" sprechen (135).
Während in den ersten beiden Teilen der pointiert herausgearbeitete Gegensatz zwischen "Volk" und Oppositionellen dominiert, tritt im dritten ein neuer Akteur auf den Plan: die Westdeutschen. Diese waren zwar zunächst nur indirekt dafür verantwortlich, dass auf die hohen Erwartungen der Ostdeutschen an die Einheit, in die sie, so Pollack, keineswegs blauäugig gegangen seien, eine tiefe Enttäuschung folgte. Denn im Zuge der Transformation der Wirtschaft mussten die in der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft sozialisierten Menschen die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Niedergang machen, der für sie "ein einziges großes Desaster" war und "als menschliches Versagen [...], als Scheitern, als Makel" empfunden wurde (153). Hinzu kam "der Überlegenheitsdiskurs der Westdeutschen" als weitere Demütigung (158). Sowohl aufgrund der Enttäuschungserfahrung als auch aufgrund der Ost-West-Auseinandersetzung, in der die DDR "zu einem umkämpften Gut [wurde], das die Ostdeutschen gegen westliche Vorurteile verteidigen wollten" (160), entstand - wohlgemerkt nach 1990! - eine DDR-Identität (die letztlich auch von den Westdeutschen unterstellt wurde). Das Vertrauen der Ostdeutschen in Marktwirtschaft und Demokratie sank erheblich; gleichzeitig kam es in den 1990er Jahren zu einer "Ostalgie"-Welle. Trotz einer Verbesserung der Lebenslage vieler Ostdeutscher blieb die Unzufriedenheit weiter hoch - letztlich bis heute. Die Ostdeutschen zerflössen indes nicht in Selbstmitleid, sondern es gelinge ihnen, sich durchzusetzen, "mit mitleidheischenden Klagegesängen - und mit einem schockierenden Wahlverhalten, das sich im Schutz der Anonymität vollzieht" (178). Sie setzten, so die Vermutung Pollacks, Diskriminierungsgefühle ein, "um sich beschweren und Anspruch auf stärkere Berücksichtigung erheben zu können" (188). Dabei war und ist der Westen der entscheidende Maßstab zur Beurteilung der eigenen Situation, so dass die Stimmung im Osten schlechter sei als die Lage.
Die Erklärung des ostdeutschen Wahlverhaltens weist - im Gegensatz zur bisherigen Argumentation - eine Schwäche auf. Denn einerseits schreibt Pollack zu Recht, dass die Mehrheit der Ostdeutschen heute in der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung fest integriert sei und nicht rechtspopulistisch wähle. Andererseits fokussiert er sich bei der Erklärung des sich vom Westen unterscheidenden ostdeutschen Wahlverhaltens auf die AfD. Umfragen ergaben, dass, anders als im Westen, nicht sozialökonomische Faktoren, sondern kulturelle Faktoren für die Entscheidung, AfD zu wählen, ausschlaggebend seien: Es gehe darum, politischen Protest anzumelden, sich gegen den allgemeinen Selbstverwirklichungskonsens zu wenden und eine Rückkehr zu alter nationaler Stärke zu propagieren. Dabei treibe "ein tiefsitzendes Ressentiment" nicht nur gegen die Arroganz der "Wessis", sondern gegen alles Etablierte diesen politischen Protest an (209). Dieses "Kollektivbewusstsein der Unterprivilegierung" komme der AfD entgegen (209); aus Stimmungen und Haltungen würden Mentalitäten, "die inzwischen in bestimmten Milieus einen sozialen Wurzelboden gefunden" hätten (211). Um welche Milieus es sich handelt, schreibt Pollack leider nicht.
Das Buch endet mit einer Art Psychogramm der Ostdeutschen. Aufgrund der fragmentierten Räume, in denen sie vor 1990 lebten, seien sie sich uneins, wenn es um die Beurteilung der DDR gehe. Gleichzeitig hätten sie sich damals der Gesellschaft überlegen gefühlt und den Schwerpunkt auf ihr privates Leben gelegt. Wenngleich dies bei der hochkomplexen und effektiveren westlichen Gesellschaft schwieriger sei, bleibe "der Ossi sozial unangepasst", sei aber "mit sich im Reinen" (216). Pollack macht bei ihm eine "Mischung aus unreflektierter Unbedarftheit und unangepasster Dreistigkeit" (217) aus. Während sich diese Kennzeichnung auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bezieht, führt er die kollektive Mentalität der Gesellschaft darauf zurück, dass in der DDR die "kleinen Leute" aus politischen Gründen aufstiegen, so dass "eine großspurige Underdog-Mentalität" um sich griff (220). Die Ostdeutschen seien daher zwar pragmatisch und arbeitsam, aber auch aufstiegsorientiert und von der Sorge getrieben, zu kurz zu kommen. "Ein Ossi - das ist der, der dem andern wenig gönnt, sich selbst für bescheiden hält, aber gern so leben würde wie er und sich moralisch für den besseren Menschen hält" (222). Die Ostdeutschen fänden sich selbst zwar in Ordnung, beklagten sich aber über ihr Schicksal und verfügten über "eine Art verfestigtes Ressentiment" (223). Vor diesem Hintergrund rät Pollack ihnen abschließend, "aus dem 'Jammerdiskurs' aus[zu]steigen, ihn als ein Instrument, Aufmerksamkeit und Beachtung zu erzwingen, [zu] durchschauen und sich ein[zu]gestehen, dass sie neben allen Sorgen und Problemen vor allem Grund zur Dankbarkeit haben" (229). Solche Sätze kann sich nur ein Ostdeutscher erlauben, der in seinem Buch bisweilen vom distanzierten "sie" zum inklusiven "wir" wechselt.
Auch wenn das dritte Kapitel und der Schluss weniger konsistent erscheinen als die beiden ersten historischen Abschnitte, laden sie dazu ein, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wer "die Ostdeutschen" eigentlich sind. Pollack ist es dabei gelungen, eine lange Linie von deren Protest im Jahre 1989 zu deren Ressentiments von heute zu ziehen.
Hermann Wentker