Stefan Brakensiek / Claudia Claridge (Hgg.): Fiasko - Scheitern in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs (= Bd. 64), Bielefeld: transcript 2015, 220 S., ISBN 978-3-8376-2782-4, EUR 29,99
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Die Epoche der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt des Scheiterns zu betrachten, ist eine durchaus reizvolle Perspektive: Die Wirtschaftsgeschichte hat wiederholt auf die große Zahl von Handelshäusern, Banken und Manufakturen hingewiesen, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert bankrottgingen [1]; die historische Revoltenforschung kennt, wie ein vor kurzem erschienener Sammelband nochmals betont, nur wenige geglückte Aufstände und Rebellionen [2]; und die Geschichte europäischer Kolonialprojekte ist stets auch eine Geschichte gescheiterter Unternehmungen gewesen. [3]
Wer vom vorliegenden Band, der auf eine interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Duisburg-Essen im Sommer 2013 zurückgeht, eine umfassende, systematische Herangehensweise an das Phänomen des Misserfolgs erwartet, wird allerdings enttäuscht. Die Herausgeber haben ihm anstatt einer thematischen und konzeptionellen Einführung lediglich ein zweiseitiges "Editorial" vorangestellt, das sich auf die Feststellung, dass Scheitern auch etwas mit Zukunftsvorstellungen zu tun habe und Lernprozesse einleiten könne, sowie auf knappe Bemerkungen zur Etymologie beschränkt.
Im ersten der acht Beiträge geht Birte Bös der Frage nach, wie Londoner Zeitungsherausgeber im frühen 18. Jahrhundert die Einstellung ihrer Periodika erklärten. Während einige wenige die Schuld bei sich selbst suchten, schrieben die meisten das Scheitern ihrer Zeitungen externen Faktoren - unfairer Konkurrenz, politischen Repressalien oder veränderten Marktverhältnissen - zu. Stefan Brakensiek geht auf zwei Ebenen der Figur des "Projektemachers" im 18. Jahrhundert nach - im enzyklopädischen Diskurs, der die ökonomischen, administrativen und technischen Vorschläge von "Projektemachern" mit Hochstapelei und Betrug assoziierte, sowie in Biografie und Werk des Kameralisten Johann Heinrich Gottlob von Justi, der das gesamte menschliche Leben "als ein rational planbares Projekt" konzipiert habe (52). Claudia Claridge zeigt, wie der missglückte Versuch, Ende des 17. Jahrhunderts eine schottische Siedlungskolonie am Isthmus von Panama zu etablieren, in der zeitgenössischen Publizistik reflektiert wurde. Die Pamphlete und Gedichte schottischer Autoren suchten die Ursachen dieses Scheiterns bei externen Faktoren - vor allem beim Nachbarn England, aus dessen Perspektive der Erfolg eines schottischen Kolonialprojekts politisch und ökonomisch unerwünscht war. Jens Martin Gurr interpretiert zwei sehr unterschiedliche literarische Fragmente - Thomas Mores History of King Richard III aus dem frühen 16. und Percy Bysshe Shelleys A Philosophical View of Reform aus dem frühen 19. Jahrhundert - als Manifestationen künstlerischen Misserfolgs: More wie Shelley hätten ihre Texte aufgrund von konzeptionellen Widersprüchen abgebrochen, die sie nicht aufzulösen vermochten.
Christoph Heyls Beitrag über das große Feuer in London 1666 - in dem die in letzten Jahren florierende historische Katastrophenforschung leider kaum Spuren hinterlassen hat - sieht in der Brandkatastrophe auch ein Scheitern der englischen Staatsgewalt, die sich als unfähig zu geeigneten Gegenmaßnahmen erwiesen habe, und lässt literarische Deutungen Revue passieren, die das Feuer als Gottesstrafe, als Werk der Feinde Englands bzw. als Chance interpretierten, die Stadt noch großartiger und schöner wieder aufzubauen. Marcel Nieden nennt als Ursachen des Misslingens sämtlicher Religionsgespräche des 16. Jahrhunderts unterschiedliche Zielvorstellungen, fehlende Bereitschaft zum Kompromiss, Befangenheit der Akteure in bestimmten Perzeptions- und Sprachmustern, unüberbrückbare inhaltliche Differenzen und mangelnde Legitimität der Verhandlungsführer. Nicht selten hätten die Initiatoren diese Religionsgespräche ohnehin eher als Forum zur Präsentation eigener Glaubensüberzeugungen denn als erfolgversprechende Suche nach Kompromissen betrachtet. Frank Erik Pointner interpretiert Walter Raleighs Bericht über seine Entdeckungsfahrt nach Guyana in den 1590er-Jahren als Versuch, ein gescheitertes Unternehmen in einen Triumph umzudeuten. Der einstige Günstling Elisabeths I., der durch seine Heirat mit einer Hofdame das Wohlwollen der Herrscherin verwirkt hatte und ohne Reichtümer aus Südamerika zurückgekehrt war, substituierte fehlende eigene Erfolge durch Berichte aus zweiter Hand über unentdeckte Reichtümer im Landesinneren und konstruierte Parallelen zwischen der Eroberung eines jungfräulichen Landes und der (Rück-)Eroberung der Gunst der jungfräulichen Königin. Jörg Wesche schließlich führt einige sehr verschiedene Texte zusammen: Er beginnt mit dem "biographische[n] Modell der erfolgreichen oder gescheiterten Lebensspanne" (201) bei Heinrich von Kleist und landet über "die Anerkennung des Scheiterns" (204) im Werk Johann Gottfried Herders bei literarischen Verarbeitungen von Schiffbrüchen im Zeitalter des Barock.
Die Beiträge werfen durchaus interessante Schlaglichter auf gescheiterte ökonomische, politische und literarische Projekte. Sie lassen jedoch einen großen Teil der Literatur zum Thema Misserfolg in der Frühen Neuzeit unberücksichtigt, und man legt das Buch mit dem Gefühl aus der Hand, dass hier die Chance der systematischen Vermessung eines Forschungsfeldes zugunsten einer möglichst schnellen Publikation vergeben worden ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Thomas Max Safley (ed.): The History of Bankruptcy: Economic, Social and Cultural Implications in Early Modern Europe, London / New York 2013.
[2] Peter Rauscher / Martin Scheutz (Hgg.): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815). Vorträge der Jahrestagung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (Wien, 18.-20. Mai 2011), Wien / München 2013.
[3] Vgl. etwa James Horn: A Kingdom Strange: The Brief and Tragic History of the Lost Colony of Roanoke, New York 2011; Tonio Andrade: Lost Colony: The Untold Story of China's First Great Victory over the West, Princeton / Oxford 2011.
Mark Häberlein