Rezension über:

Konrad H. Jarausch: Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, IX + 867 S., 12 Kt., 31 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-15279-0, USD 39,50
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Rezension von:
Gunther Mai
Universität Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Agnes Bresselau von Bressensdorf im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Gunther Mai: Rezension von: Konrad H. Jarausch: Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/26864.html


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Konrad H. Jarausch: Out of Ashes

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Es ist eine ebenso mutige wie bemerkenswerte Leistung, die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert auf 788 Textseiten im Überblick zu behandeln. Konrad Jarausch tut dies, indem er das 20. Jahrhundert in vier etwa gleich lange Quartale gliedert: 1900-1929 (Promise of Progress), 1929-1945 (Turn to Self-Destruction), 1945-1973 (Surprising Recovery) und 1973-2000 (Confronting Globalization). Freilich setzt er früher ein, mit Imperialismus und zweiter industrieller Revolution; und er geht abschließend in seinem Resümee bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, so dass das Buch letztlich von einem "langen" 20. Jahrhundert handelt. Die vier Teile sind jeweils in neun Kapitel untergliedert, von denen zumindest eines den "Zeitgeist" der Epoche zu umreißen versucht. Die anderen Kapitel widmen sich zentralen Kernfragen des jeweiligen Zeitraums, die den gesamten europäischen Raum abdecken. Der vierte und letzte Teil bringt auch für den aufmerksamen Zeitgenossen seine miterlebte Geschichte in eine gelungene Übersichtlichkeit, die von der Doppelperspektive des Deutsch-Amerikaners profitiert. Alle Kapitel enden in einer kurzen, prägnanten Zusammenfassung, die es dem eiligen Leser erlaubt, den einen oder anderen Part zu überspringen, ohne den Kontext und den Duktus von Darstellung und Argumentation zu verlieren. Zudem ist das Buch in einer eingängigen, aber präzisen Sprache abgefasst.

Zum Kernbegriff seiner Darstellung erhebt Jarausch den Begriff der "Modernität" (modernity). Diesen will er nicht in der starren, teleologischen Version der Modernisierungstheorien der 1960er und 1970er Jahre verwendet sehen, sondern: "Historizing the term involves deconstructing its shifting meaning according to the time, place, and speaker behind it." Daraus ergebe sich der Blick auf die konfliktreichen Beziehungen gleichzeitiger Modernitätskonzepte; dies lege die "Pluralisierung" des Begriffes in "multiple modernities" nahe und öffne den Blick für die Ambivalenzen von segensreichen Auswirkungen und fürchterlichen Potentialen. Modernität sei insofern kein selbst-evidenter zivilisatorischer Standard, sondern ein komplexes Problem, dem man sich historisch annähern müsse (5). Mit zahllosen Epitheta versucht der Autor im Verlaufe seiner Darstellung, diese "Modernitäten" zu differenzieren (bis hin zur antimodernistischen Modernität). Das aber zeigt, dass der Begriff nur bedingt trägt. Er reduziert sich, folgt man der kurzen Begriffsgeschichte, auf den jeweiligen Anspruch des Andersseins. In dem Sinne entwickelte die Renaissance den Begriff als Abgrenzung von der Antike und dem eben vergehenden Mittelalter; in dem Sinne beschrieben die Zeitgenossen um 1900 den Prozess der von wissenschaftlicher, industrieller und demokratischer Revolutionierung geprägten europäischen Entwicklung, dem bald Vorbildcharakter zugeschrieben wurde. In dem Sinne wird das 21. Jahrhundert sich gegenüber dem 20. Jahrhundert nicht weniger als "modern" abgrenzen.

Insofern stellt sich die Frage, was das Signum der "Modernität" des 20. Jahrhunderts war, der "klassischen" Moderne. Es könnte - freilich ohne dass sich diese Strukturentwicklung an die zeitlichen Rahmungen des Kalenders hielte - der Strukturtypus bzw. das kulturelle Leitbild der entwickelten Industriegesellschaft sein, die mit der zweiten industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. In der Bundesrepublik (und nicht nur hier) überholte der Dienstleistungssektor den industriellen Sektor um die Mitte der 1970er Jahre. Forciert durch die dritte industrielle (elektronische) Revolution ist der tertiäre Sektor heute zu 70 Prozent an der Wertschöpfung beteiligt, der sekundäre nur noch zu 30 Prozent. (Der Anteil der Landwirtschaft ist marginal). An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass die Industrialisierung zum Leitbild der unterschiedlichsten politischen und sozialen Systeme avancierte. Nur der industrialisierte Staat war souverän, d.h. kriegsführungsfähig. Das zwang die agrarisch geprägten Staaten Ost- und Südosteuropas, mit teils brutalen diktatorischen Mitteln das Investitionskapital aus einer unproduktiven Landwirtschaft herauszupressen, wollte man nicht mit Auslandsanleihen seine Souveränität aufs Spiel setzen. Ebenso musste die Sowjetunion handeln, um ihre Existenz gegen die kapitalistische Einkreisung zu behaupten; man müsse in zehn Jahren schaffen, wofür der Westen einhundert gebraucht habe, lautete die mörderische Forderung Stalins. Und auch das Dritte Reich war letztlich ein Industriestaat, der seine agrarromantische Blut- und Boden-Ideologie nur durch einen erfolgreichen Eroberungskrieg realisieren konnte, ebenso seine unvorstellbaren rassischen Vernichtungsanstrengungen. Insofern gab es viele konkurrierende Pfade in diese entwickelte Industriegesellschaft, so wie es seit dem vierten Quartal des 20. Jahrhunderts konkurrierende Pfade in die postindustrielle Welt gibt, wie der Autor in knappen Strichen luzide herausarbeitet.

Wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts also vom Aufstieg und Fall der industriellen Gesellschaft handelt, lohnt sich ein knapper Blick auf die Bilanz: Der industrielle Sektor überholte in Deutschland den agrarischen um 1895 nach der Zahl der Beschäftigung (nach der Wertschöpfung schon etwas früher). Heute sind in der Landwirtschaft (die in Teilen schon dem industriellen Sektor zugerechnet werden kann) unter 5 Prozent der Beschäftigten tätig, in der Industrie um 30 Prozent, aber 70 Prozent im tertiären Sektor. (In der EU sind es 5,1 Prozent in der Landwirtschaft, 25 Prozent in der Industrie und 70 Prozent in den Dienstleistungen). [1] In Russland (und anderen Staaten Osteuropas) gehörten um 1913 über 80 Prozent der Erwerbsbevölkerung zum agrarischen Sektor; 1980 waren es 20 Prozent. (In China sind es heute noch 60 Prozent, gegenüber 21 Prozent in der Industrie!). Gesellschaften mit mehr als 50 Prozent der Erwerbstätigen hat es ohnehin nur in der Ausnahme gegeben (England, Deutschland, Belgien). Gleichwohl haben allenthalben in drei bis vier Generationen Umschichtungen stattgefunden, die enorme Anpassungsleistungen von den Menschen forderten, auch durch autoritären Zwang: vom natürlichen zum maschinengetakteten Arbeitsrhythmus, von der Familienorganisation bis zu den Siedlungsformen, von der sozialen bis zur geographischen Mobilität, von der Selbstversorgung zum reinen Geldeinkommen. Davon liest man in dem Buch wenig, auch nicht von den Verlierern dieses Prozesses: der Jahrtausende alten Wirtschaftsform der Landwirtschaft, der Tausend Jahre alten Herrschaft des Adels und der Königsherrschaft als Regierungsform. Deren Widerstände in dieser Phase der "agrarischen Transition", der Marginalisierung der Landwirtschaft, waren enorm, gehörten ihr z.B. in Deutschland noch 1930 ein Drittel der Erwerbsbevölkerung an. Als deren kulturelle und soziale Dominanz endgültig gebrochen war, global fast einhellig in den 1960er Jahren, begann bereits der Aufstieg des Dienstleistungssektors, der nun seinerseits den industriellen in die Defensive drängte.

Die entwickelte Industriegesellschaft ließ sich entlang den Strukturformen der Industriearbeit, ihrer Zeit- und Ressourcenökonomie, ihrer Rationalisierungsfähigkeit in hohem Maße organisieren - und das keineswegs nur kapitalistisch und marktwirtschaftlich. Auch der Kapitalismus war freilich auf eine hohe Disziplinierungsleistung angewiesen, sei es durch direkten, auch physischen Zwang, sei es durch indirekten, ökonomischen Zwang. Und hervorragend organisieren ließen sich auch die begleitenden, letztlich ausufernden Kompensationen durch Sozialpolitik. Diese Organisierbarkeit war wohl auch eine wesentliche Grundlage für den Erfolg des Keynesianismus. Dessen Scheitern war nicht nur einem ideologischen Paradigmenwechsel geschuldet, sondern auch seinem realwirtschaftlichen Versagen. Dass dieses Versagen mit dem Durchbruch der Dienstleistungsökonomie einherging, scheint mehr als ein Zufall zu sein, verlangt diese doch ein neues Maß von Flexibilität und Mobilität, von individueller Verfügbarkeit in Zeit und Raum einer Globalisierung, die nicht mehr schläft und Werksferien macht. Die kulturellen Unterschiede, die diese neuerliche Transition in Europa und den USA bestimmen, sieht das geschulte Auge des deutsch-amerikanischen Autors in dem letzten Teil seines Buches sehr präzise, nicht zuletzt, was die sehr stark differierenden Auffassungen zu den sozialpolitischen Begleitmaßnahmen betrifft. Und man kann auch über die These nachdenken, ob der real versagende Sozialismus zwar die Industriegesellschaft einigermaßen effektiv zu organisieren vermochte, aber allemal an den genannten Bedingungen der Globalisierung scheiterte bzw. ohnehin gescheitert wäre. Die chinesische Führung scheint das gelernt zu haben.

Der Titel des Buches "Out of Ashes" deutet darauf hin, dass es sich sehr stark auf die politische und Ereignisgeschichte konzentriert, ohne sich darin zu erschöpfen. Es sieht Europa um 1900 auf dem Höhepunkt seiner globalen Macht, das sich seit 1914 in einem dreißigjährigen Bürgerkrieg selbst zerfleischte, aber mit der Dekolonisierung nach 1945 auch den Freiraum für seinen Wiederaufstieg gewann. Auch hier wird man davon ausgehen können, dass die Kriege trotz ihrer unfassbaren Zerstörungsleistung die Substanz nicht in gleichem Maße mit vernichtet hatten. Deutschland wurde durch den Zweiten Weltkrieg und die anschließenden Reparationen "nur" auf den Stand von 1938 zurückgebombt. Das dürfte für die westeuropäischen Kriegsbeteiligten in ähnlicher Form gelten. Wahrscheinlich war, jetzt hinter dem Ural, auch der sowjetische Industrialisierungsgrad nach dem Krieg höher als vorher, nicht zuletzt dank amerikanischer Lend-lease-Lieferungen (weniger dank deutscher Reparationen). Das war die Voraussetzung dafür, dass die Initialzündung des Marshall-Planes so unerwartet positive Resultate in relativ kurzer Zeit bewirken konnte. Heute ist Europa durch die fast flächendeckende Integration ein wirtschaftlicher Riese, aber ein machtpolitischer Zwerg, auch wenn in England und Frankreich die Phantomschmerzen der verlorenen Weltmachtstellung noch immer zu Bemühungen führen, dies im nationalen Alleingang auf internationaler Ebene zu kompensieren. Auch das neue wiedervereinte Deutschland spielt bestenfalls in der dritten Liga - und wird hoffentlich nicht (wieder) in höhere Klassen aufsteigen wollen.

Das führt zu einem letzten Punkt. Das Buch ist, so sehr es sich um europäische Breite bemüht, ein recht "deutsches" geworden. Vielleicht zu Recht. Denn das 20. Jahrhundert war in der europäischen Geschichte das "deutsche" Jahrhundert. Angefangen von der Herausforderung des Mächtesystems durch das Kaiserreich über die verweigerte Anerkennung der Niederlage bis zum zweiten Anlauf in einem noch mörderischeren Krieg. Es war aber gerade die Teilung des Landes, die den beiden Deutschlands den Wiederaufstieg ermöglichte: als Schauplatz, als Werkbank, als Preis des Kalten Krieges. Die Blockbildung und mehr noch die Kontrolle des deutschen Potentials durch Integration war ein wesentlicher Motor für die Verflechtungen in Ost und West, wobei diese im Westen weiter reichte und erfolgreicher war. Die Vertiefung der Integration war weniger der Preis, den das wiedervereinte Deutschland zahlen musste, sondern den das übrige Europa bezahlte und damit die Voraussetzungen dafür schuf, dass Deutschland am Ende des Jahrhunderts doch noch sein Ziel erreichen konnte: die latente Hegemonie in (Kontinental-)Europa. Jetzt freilich nicht durch Krieg, Staatsmord und Zwang, sondern durch die "weichen" Instrumente, wie sie schon die Mitteleuropa-Propagandisten im 19. Jahrhundert als wesentlich effizienter empfohlen hatten.

Die verwickelte Geschichte eines ganzen Kontinentes in einhundert Jahren auf knapp 800 Textseiten zusammenzufassen, erfordert Mut zur Auswahl, zur Lücke, zur Abstraktion. Insofern ist der Hinweis auf Defizite und Desiderata wohlfeil. Aber es sind andere Zugriffe auf das Thema als der von Jarausch gewählte möglich, die allerdings erst einmal geschrieben werden müssen. Es gibt wohl wenig Erfreulicheres für ein Buch bzw. seinen Autor, als einen großen Wurf vorgelegt zu haben, an dem sich die Wissenschaft in Zukunft abzuarbeiten haben wird.


Anmerkung:

[1] URL: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/249082/umfrage/erwerbstaetige-nach-wirtschaftssektoren-in-der-europaeischen-union-eu/

Gunther Mai