Barbara Stelzl-Marx / Silke Satjukow (Hgg.): Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland (= Kriegsfolgen-Forschung; Bd. 8), Wien: Böhlau 2015, 538 S., 64 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-79657-2, EUR 35,00
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Kindheiten im und nach dem Zweiten Weltkrieg sind seit einem viel beachteten Kriegskinderkongress im Jahre 2005 in Frankfurt am Main in breiten Facetten Thema wissenschaftlicher Untersuchungen mit einem großen öffentlichen Interesse. Doch auch siebzig Jahre nach Kriegsende gibt es noch eine ganze Reihe bislang weitgehend unbearbeiteter Kapitel, wie etwa auch ein internationaler Kriegskinderkongress im Leipzig im November 2015 gezeigt hat. [1] Als besonders gewinnbringend hat sich seit einigen Jahren bereits der gemeinsame Blick von Historikern und Psychologen auf die vielfach lebenslangen Auswirkungen kriegs- und kriegsfolgebedingter Belastungen für damalige Kinder und Heranwachsende erwiesen. Dabei werden nicht nur defizitäre Aspekte des Aufwachsens unter prekären Bedingungen, ohne Vater oder vaterfern beispielsweise [2], sondern auch protektive Faktoren berücksichtigt [3].
In diese Zusammenhänge fügt sich die von Barbara Stelzl-Marx und Silke Satjukow vorgelegte Publikation über Besatzerkinder in Österreich und Deutschland ein. Sie stellt eine wichtige Ergänzung zu einer Reihe von Veröffentlichungen dar, welche sich mit Besatzungskindern in am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern beschäftigen, zunehmend auch mit Blick auf exemplarische Erfahrungen und vergleichende Perspektiven. [4]
Die Herausgeberinnen sind ausgewiesene Spezialistinnen, die in ihrer Einleitung auf die "Bandbreite" der "Lebensumstände" von Besatzerkindern hinweisen, die sowohl "sexuellen Gewaltnahmen" entstammten als auch "pragmatischen Versorgungspartnerschaften sowie engen Liebesbeziehungen" (15). Gemeinsam war diesen Kindern, dass sie ihre Väter oft kaum oder gar nicht kannten und dass sie meist in unvollständigen Familien aufwuchsen. Viele verbindet zudem zeitlebens eine intensive Spurensuche nach ihren Wurzeln.
Ebenfalls einleitend schlagen Sabine Lee und Ingvill C. Mochmann einen weiten historischen Bogen zwischen vergleichbaren Erfahrungsgruppen in Vergangenheit und Gegenwart. Es folgen weitere einführend übergreifende Perspektivierungen und Fragestellungen: Marie Kaiser, Svenja Eichhorn, Philipp Kuvert und Heide Glaesmer betrachten die psychologischen Folgen für Betroffene und legen einen besonderen Akzent auf die Bedeutung des Wissens um die "eigene, hier speziell die väterliche Herkunft von zentraler Bedeutung für die Identitätsentwicklung" (41). Sie machen auch auf die Mehrfachtraumatisierungen der Mütter dieser Kinder und die psychischen wie körperlichen Spätfolgen bei den Besatzerkindern im Alter aufmerksam. Miriam Gebhardt schließlich reflektiert den öffentlichen Umgang mit Vergewaltigungen vor dem Hintergrund ihrer Forschungen in einer "Gesellschaft der Überlebenden", in der Schuld- und Schamgefühle dazu beitrugen, persönliche Leiderfahrungen zu beschweigen.
Der umfangreiche Sammelband gliedert sind nach den genannten vier einleitenden Texten in zwei Blöcke: einen ersten mit Beiträgen jeweils zu sowjetischen, amerikanischen und britischen sowie französischen Besatzungskindern in Deutschland und Österreich, gefolgt von einem zweiten mit Selbstzeugnissen, die den Kapiteln im ersten Block zugeordnet werden können.
Es kann hier nicht auf alle Beiträge und Zeugnisse eingegangen werden; deshalb seien einige stellvertretend herausgegriffen, die die Lektüre unter den eingangs genannten Forschungsperspektiven besonders interessant erscheinen lassen: Annette Braucherhoch wendet sich der medialen Darstellung und damit den massiven Vorurteilen gegenüber Mischlingskindern in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu. Elke Kleinau wirft - ausgehend von einem biographischen Beispiel - die Frage nach geschlechtsspezifischen Lebensperspektiven von Besatzungskindern auf. Karin M. Schmidlechner bezieht die Frage nach den "Besatzungsenkelkindern" in ihre Untersuchung ein; Enkel, die wohl vielfach die Suche nach der ungeklärten Herkunft ihrer Großväter oder Großmütter weiterbetreiben. Ute Baur-Timmerbrink, selbst einstiges Besatzungskind, greift ebenfalls die transgenerationale Perspektive auf. Silke Satjukow stellt die Situation in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR in den Mittelpunkt und bietet damit eine Grundlage für einen Vergleich zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit Besatzungskindern in den deutschen Teilgesellschaften nach 1945 sowie auch in Österreich.
An dieser Auflistung einiger spezifischer Akzente lässt sich die Facettenbreite der Themen des vorliegenden Bandes ansatzweise verdeutlichen, die zweifellos zur Lektüre einlädt. Eine Systematisierung des Vergleichs oder eine tatsächliche "binationale Synopse" (14) indes bleibt wohl eine nach wie vor zu leistende Aufgabe, die durch einen solchen Sammelband nicht umfassend geleistet werden kann. Das Anliegen der Herausgeberinnen, die "Europäisierung" (13) der Kriegsfolgenforschung - bezogen auf den Zweiten Weltkrieg - voranzubringen, ist allerdings ebenso einleuchtend wie ihre Betonung der vergleichenden Perspektivierung, womit die Lektüre noch einmal empfohlen sei.
Nicht zuletzt bleibt wohl für die kommenden Jahre eine Aufgabe vorrangig: den Schicksalen und lebenslangen Fragen einstiger Kriegskinder eine Stimme und ein Gesicht zu geben. Als Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2015, 2013 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, sagte sie: "In meinen Büchern erzählt der kleine Mensch von sich, das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab"; und von sich selber sagte sie dann: "Ich gehe zu denen, die keine Stimme haben. Ich höre ihnen zu, ich höre sie an, ich belausche sie". [5] Das wird etwas sein, was die Forschung weiter mit Blick auf die Kinder des Zweiten Weltkrieges und auf andere Kriege beschäftigen wird.
Anmerkungen:
[1] Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden und die Professur für Geschichtsdidaktik am Historischen Seminar der Universität Leipzig: Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Eine internationale Perspektive (12. bis 14. November 2015, s. auch http://www.hait.tu-dresden.de/dok/3500.pdf, zuletzt aufgerufen am 27.1.2016)
[2] Alexander Denzler / Markus Raasch (Hgg.): Kinder und Krieg. Epochenübergreifende Analysen zu Kriegskindheiten im Wandel, 2016 (im Druck).
[3] Vgl. Barbara Stambolis: Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht, Stuttgart 2012; Barbara Stambolis (Hg.): Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema, Weinheim / München 2013.
[4] Vgl. Silke Satjukow / Rainer Gries: "Bankerte!" Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2015; Ute Baur-Timmerbrink: Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen, Berlin 2015.
[5] Aus der Dankesrede von Swetlana Alexijewitsch zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2013: http://www.fr-online.de/literatur/friedenspreis-des-deutschen-buchhandels-rede-von-alexijewitsch-im-wortlaut,1472266,24618404.html, zuletzt aufgerufen am 19.12.2015. Vgl. Swetlana Alexijewitsch: Die letzten Zeugen. Kinder des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2014.
Barbara Stambolis